Klinische Neurophysiologie 2022; 53(03): 196-198
DOI: 10.1055/a-1869-3678
FNTA | Fortbildung

Warum sind Polarität und Lokalisation zur Bewertung von EEG-Potenzialen hilfreiche Parameter?

Wilhard Reuter
1   Großmaischeid
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Grundsätzliche Überlegungen

Die Grundlagen des Differenzialverstärkers und die daraus resultierende Darstellung von EEG-Potenzialen werden beschrieben. Auf der Basis der Polaritätskonvention wird die Polaritätsbestimmung von EEG-Potenzialen erklärt.

Die dabei hilfreichen Lokalisationsprinzipien werden für unterschiedliche Montagen dargestellt.

Welche gängigen Parameter werden bei EEG-Potenzialen bestimmt?

Bei EEG-Potentialen werden im Befund meist Frequenz, Amplitude und Potenzialform beschrieben. Die Polarität eines Potenzials wird selten bewertet. Das mag daran liegen, dass die Richtung eines Potenzials als Ausdruck seiner Polarität sich in den verschiedenen Montagen einer Ableitung unterschiedlich darstellt. So weist ein (in der Regel pathologisches) negatives Potenzial bei Entstehung unter dem ersten Eingang mit der Spitze nach oben, unter dem zweiten Eingang nach unten. Zur Bestimmung der Polarität ist deshalb auch die Lokalisation des Potenzials von Bedeutung. Zu beiden Parametern werden Grundlagen für häufig auftretende Konstellationen dargestellt. Notwendig für das Verständnis dieser Parameter ist zunächst die Kenntnis der Funktionsweise des Differenzialverstärkers.


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Wie ist ein Differenzialverstärker aufgebaut?

Der Differenzialverstärker wurde entwickelt, um Störströme der EEG-Signale zu vermeiden. Dabei werden jeweils bei jedem Kanal von zwei Elektroden Potenziale abgeleitet. Die Potenziale unterscheiden sich in der Regel durch Frequenz, Amplitude und Form voneinander. Trifft nun ein von außen kommender Störstrom mit identischen Signalen auf die Elektroden in Eingang 1 und 2, kann er im Differenzialverstärker durch die Differenzbildung der Potenziale zwischen Eingang 1 und 2 (Störstrom 1 minus Störstrom 2) auf 0 gesetzt und damit eliminiert werden. Die Technik bietet somit einen erheblichen Vorteil für die Darstellung störungsfreier Potenzialkurven. Aber auch die physiologischen Potenziale werden miteinander verrechnet. Dabei werden die unter Elektrode 2 ableitbaren negativen Ladungen (Elektronen) von unter Elektrode 1 ableitbaren negativen Ladungen abgezogen.


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Wie erklärt sich die Polarität eines Potenzials?

Elektronen sind negativ geladene Elementarteilchen, deren Verteilung im Nervengewebe neurophysiologische Vorgänge widerspiegelt. In der EEG-Ableitung sind die zur Darstellung kommenden „Feldpotenziale“ Ausdruck dieser Vorgänge. Finden sich z. B. unter der Elektrode im Eingang 1 mehr Elektronen als unter der Elektrode in Eingang 2, entsteht ein negatives Feldpotenzial. Finden sich dagegen unter der Elektrode im Eingang 1 weniger Elektronen als unter der Elektrode im Eingang 2, entsteht ein positives Feldpotenzial. Unter der Elektrode im Eingang 2 entsteht bei weniger negativen Elektronen ein positives Feldpotenzial, bei mehr Elektronen dagegen ein negatives Feldpotenzial.

In der Elektrophysiologie werden nach der Polaritätskonvention Potenziale mit Ausschlag nach oben als negativ und Potenziale mit Ausschlag nach unten als positiv definiert [1]. Entsteht ein negatives Feldpotenzial also unter der Elektrode in Eingang 1, wird es mit einem Ausschlag nach oben dargestellt ([Abb. 1a]). Umgekehrt bedeutet dies, dass ein unter der Elektrode 1 entstehendes nach oben gerichtetes Potenzial negativ ist. Ein negatives Feldpotenzial, das unter der Elektrode in Eingang 2 entsteht, wird mit Ausschlag nach unten dargestellt ([Abb. 2c]). Entscheidend für die Zuordnung ist also die Frage, unter welcher Elektrode das Potenzial entsteht.

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Abb. 1 Polarität und Potenzialrichtung a) Ist das Feldpotenzial unter der Elektrode 1 negativer als unter Elektrode 2, stellt sich das Potenzial nach oben gerichtet dar. b) Ist das Feldpotenzial unter der Elektrode 1 positiver als unter Elektrode 2, stellt sich das Potenzial nach unten gerichtet dar. c) Ist das Feldpotenzial unter der Elektrode 2 negativer als unter der Elektrode 1, stellt sich das Potenzial nach unten gerichtet dar. d) Ist das Feldpotenzial unter der Elektrode 2 positiver als unter der Elektrode 1, stellt sich das Potenzial nach oben gerichtet dar. e) Ist das Feldpotenzial unter beiden Elektroden gleich ausgeprägt, stellt sich – entsprechend dem Prinzip des Differenzialverstärkers – als Differenz eine Nulllinie dar.
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Abb. 2 Lokalisation eines EEG-Potenzials in unterschiedlichen Ableitungen (Montagen) a) In der Referenzableitung stellt sich das Potenzial (wenn es unter einer Elektrode entsteht) in dem Kanal dieser aktiven Elektrode – im Beispiel F3 – dar. b) Generalisierte Störungen lassen sich unter allen Elektroden nachweisen. Theoretisch ist auch ein unter der Referenzelektrode entstehendes Potenzial in allen mit dieser Elektrode verbundenen Elektroden nachweisbar (unter dem 2. Eingang mit umgekehrter Potenzialrichtung!). Bezüglich in der Nähe der Referenzelektrode entstehender Potenziale wird auf die ausführlicheren Lehrbücher [2] [] [4] verwiesen. c) Eine negative Phasenumkehr ist in der Regel pathologisch und weist mit ihren Spitzen auf den Herd hin. d) Eine positive Phasenumkehr ist meist Ausdruck eines Artefaktes.

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Wie werden EEG-Potenziale lokalisiert?

Die Lokalisation eines EEG-Potenzials wird im Routine-EEG durch die Darstellung in verschiedenen Montagen erleichtert. In den Referenzableitungen werden die Potenziale unter einer aktiven Elektrode gegen eine Referenzelektrode (z. B. gleichseitige Ohrelektrode, Vertexelektrode) abgeleitet. Mehrere Elektroden sind dabei mit der (möglichst elektrisch neutralen) Referenzelektrode verbunden. Ist ein Potenzial nur unter einer aktiven Elektrode nachweisbar, wird seine Entstehung dort angenommen ([Abb. 2a]). Findet sich das Potenzial dagegen unter allen mit der Referenzelektrode verbundenen Elektroden, kann es unter allen „aktiven“ Elektroden oder unter der Referenzelektrode entstehen ([Abb. 2b]). Zur Beantwortung dieser Frage sind die bipolaren Ableitungen (z. B. Längsreihe, Querreihe) hilfreich. Dabei wird nicht gegen eine Referenzelektrode, sondern gegen die benachbarte Elektrode abgeleitet. Bei Ableitung von einer Elektrode (z. B. F3) gegen eine benachbarte Elektrode (z. B. C3) werden im Differenzialverstärker die abgeleiteten Ladungen gegeneinander verrechnet. Ist ein Potenzial unter der Elektrode im Eingang 2 negativer als unter der Elektrode im Eingang 1, kommt entsprechend der Polaritätskonvention ein Potenzial mit Richtung nach unten zur Darstellung. Wenn dieselbe Elektrode im Nachbarkanal in Eingang 1 geschaltet ist, wird sich das negative Potenzial in diesem Kanal nach oben gerichtet darstellen ([Abb. 2c]). Dieses Phänomen der gegeneinander gerichteten Potenziale in benachbarten Kanälen wird als „Phasenumkehr“ bezeichnet. Wenn es sich dabei um zwei negative Potenziale handelt, sind die Potenzialspitzen einander zugekehrt, was als „negative Phasenumkehr“ beschrieben wird. Bei positiven Potenzialen sind die Potenzialspitzen voneinander abgewandt, es liegt eine „positive Phasenumkehr“ vor. ([Abb. 2d]). Bei einer regionalen Störung unter mehreren Elektroden finden sich unter den betroffenen Elektroden meist keine wesentlichen Potenzialdifferenzen. Es kommen deshalb keine Potenzialschwankungen zur Darstellung. Bei einem Herd unter F3, C3 und P3 zeigt sich im ersten Kanal ein Potenzial nach unten, weil die Elektrode F3 im zweiten Eingang negativer ist als die Elektrode Fp1 im ersten Eingang. Die Elektrode P3 im ersten Eingang des untersten Kanals ist negativer als die Elektrode O1 im zweiten Eingang und zeigt somit einen Ausschlag nach oben. Da zwischen F3, C3 und P3 keine wesentlichen Potenzialschwankungen bestehen, sind in den Kanälen F3-C3 und C3-P3 keine Potenzialschwankungen nachweisbar, dagegen in den Kanälen Fp1-F3 und P3-O1 die sogenannte weite Phsenumkehr ([Abb. 2d]).

Die Interpretation der Potenzialdarstellung in der Referenzableitung und der bipolaren Ableitung ermöglicht somit in der Regel die Lokalisation eines Potenzials oder eines größeren Potenzialfeldes. Sobald das Potenzial lokalisiert ist, kann entsprechend der Polaritätskovention die Polarität des Potentials bestimmt werden.


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Welche Bedeutung haben Polarität und Lokalisation für die Interpretation eines EEG-Potenzials?

Da die spitzen Komponenten epilepsietypischer Potenziale in der Regel negativ sind [2], hat der Nachweis eines negativen Potenzials in der Referenzableitung und/oder einer negativen Phasenumkehr in der bipolaren Ableitung zur Erkennung pathologischer Potenziale besondere Bedeutung. Unterschieden werden müssen sie von (physiologischen) positiven Spitzen, die z. B. als positive okzipitale steile Transienten des Schlafes (POSTS) vorkommen. Auch die vorwiegend bei Jugendlichen in der Müdigkeitsphase auftretenden 14&6 positiven Spikes gehören in diese Gruppe [3]. Fällt in einer Ableitung also ein möglicherweise epilepsietypisches Potenzial auf, muss zunächst seine Polarität bestimmt werden. Ein negatives Potenzial legt die Annahme „epilepsietypisch“ nahe. Bei positiven Potenzialen kommen neben Artefakten vorwiegend POSTS oder 14&6 positive Spikes infrage. Beide Phänomene treten über hinteren Hirnregionen bei Vigilanzminderung auf [3]. Durch Bestimmung der Polarität und der Lokalisation ist so eine eindeutige Differenzierung möglich. Unnötige weitere Untersuchungen und nicht hilfreiche Medikationen können durch die sichere Differenzierung von EEG-Potenzialen gegebenenfalls vermieden werden.


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Publication History

Article published online:
07 September 2022

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