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DOI: 10.1055/a-1873-3373
Trans* und Sex. Gelingende Sexualität zwischen Selbstannahme, Normüberwindung und Kongruenzerleben
Der Begriff „Transsexualität“ hat dazu geführt, dass Transgeschlechtlichkeit als eine Form der sexuellen Abweichung wahrgenommen wurde. In der Pornografie beispielsweise werden trans* Weiblichkeiten fetischisiert. Auf der anderen Seite wurde trans* Menschen im klinischen Diskurs aufgrund der unterstellten Bedeutung der Dysphorie oftmals jegliche (gelingende) Sexualität abgesprochen. Bis vor Kurzem fehlte es an empirischen Studien, die außerhalb des klinischen (Zwang-)Kontextes aus nicht pathologisierender Perspektive die tatsächlich gelebte Sexualität von trans* Personen in ihrer ganzen Vielfalt untersuchen. In jüngster Zeit sind hier international einige sozialwissenschaftliche qualitative Studien erschienen, jedoch steckt dieses Forschungsfeld noch in den Kinderschuhen. An dieser Forschungslücke setzt die vorliegende Studie von Hamm an und hat die gelingende Sexualität von trans* Menschen ohne genitalangleichende Operationen zum Gegenstand.
Es handelt sich um eine interdisziplinäre Studie, basierend auf der Masterarbeit von Hamm, die man den Transgender Studies, den angewandten Sexualwissenschaften sowie methodisch den Sozialwissenschaften zuordnen kann.
Nach einer kurzen Klärung zentraler Begriffe steigt Hamm mit einer kritischen Analyse des Forschungsstands ein. Insbesondere weist er auf Probleme in der klinischen Forschung zu trans* Sexualität hin. Diese beschränke sich in der Regel auf quantitative Erhebungen und Daten würden im Rahmen des Abhängigkeitsverhältnisses der Begutachtung erhoben, was Fragen zur Validität aufwerfe. Hamm konnte keine Studie ausfindig machen, die sich auf gelingende Sexualität von trans* Personen ohne operative Genitalangleichung fokussiert. Diese Forschungslücke sollte daher mit der vorliegenden Studie angegangen werden. Hamm interessierte insbesondere, wie trans* Personen zu gelingender Sexualität gelangen (können). Die qualitative Interviewstudie mit partizipativen Elementen wurde mit sechs Teilnehmer*innen durchgeführt. Diese kleine Stichprobe umfasst trans*männliche und trans*weibliche sowie binär und nicht-binär identifizierte Personen. Alle Teilnehmer*innen stammten aus Berlin und bewegten sich in bestimmten Szene-Kontexten, die trans* Personen in anderen Regionen nicht unbedingt zur Verfügung stehen. Dies ermöglichte einen Einblick in Erfahrungswelten von trans* Personen, die gerade dem klinischen Blick oft entgehen und defizitorientierten Sichtweisen auf trans* Sexualität ausdrücklich ressourcenorientierte und positive Perspektiven entgegensetzen können. Auf der anderen Seite sind die Ergebnisse nicht zu verallgemeinern. Mit den Teilnehmer*innen wurden leitfadengestützte Interviews durchgeführt, die Auswertung erfolgte mit qualitativer Inhaltsanalyse. Hamm diskutiert explizit die eigene Verortung als trans* Forscher. Eine Stärke der Arbeit ist zudem die eingehende Reflexion der Forschungsethik.
In der Darstellung der Ergebnisse stellt Hamm fest, dass die Teilnehmer*innen weite Definitionen von Sexualität für sich formulieren und eine breite Vielfalt an Sexpraktiken ausüben, darunter auch auffallend häufig im BDSM-Spektrum. Sexualität machen sie eher an der Anwesenheit von Erregung fest als an bestimmten Akten wie Penetration. Auch in anderer Hinsicht sind unkonventionelle sexuelle und Beziehungspraxen in der Stichprobe Standard, so besuchen die Teilnehmer*innen kollektive Sexräume wie Sexpartys und leben mehrheitlich nicht-monogame Beziehungsformen. Insgesamt ist ihr sexuelles Verhalten von Experimentieren jenseits normativer Vorgaben geprägt. Die eigene Transgeschlechtlichkeit wird dabei gleichzeitig als Chance und Barriere gesehen, wobei in dieser Studie der Fokus auf den Möglichkeiten und Ressourcen lag. Interessant ist, dass für die Teilnehmer*innen die eigenen Genitalien keine geschlechtsanzeigende Wirkung haben und z. B. von einem trans* Mann die Vagina als männliches Organ verstanden wurde. Hingegen sind sekundäre Geschlechtsmerkmale eher mit Geschlechtszuweisungen im Alltag verbunden, sodass hier der Wunsch nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen bestand bzw. diese im Rahmen der Transition stattfanden. Sexuelle Akte sind für die Teilnehmer*innen weitgehend von geschlechterstereotypen Zuschreibungen unabhängig, und auch Körpererweitertungen durch Sextoys werden beschrieben. Transition, Imagination und die Neucodierung von Körperteilen sind gängige Strategien im Umgang mit der Geschlechterinkongruenz. Hiermit sind bewusste Lernprozesse wie das Infragestellen sexueller Normen verbunden. Auch die gezielte Suche von Partner*innen, die die Identitäten anerkennen, sowie ein ebenso anerkennender Community-Kontext werden als Ressourcen genutzt. BDSM und Sexpartys werden als Lernfelder erfahren, hingegen wird Psychotherapie nur von einer*einem Teilnehmer*in explizit als hilfreich benannt.
Der Darstellung der Ergebnisse folgen kurze veranschaulichende Biografien der Teilnehmer*innen. Am Schluss gibt Hamm einige Impulse für die Beratung.
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse dieser kleinen, aber für den deutschen Kontext bedeutsamen Studie den internationalen Forschungsstand zu trans* Sexualität. Insbesondere kann Hamm zeigen, dass sich trans* Personen mit viel Kreativität und Mut sexuell handlungsfähig machen und welch wichtige Rolle dabei das Aufbrechen stereotyper Vorstellungen über Geschlecht und Sexualität gerade auch in Community-Kontexten spielt.
Das vorliegende Buch ist allen, die mit trans* Personen arbeiten, zu empfehlen, da es den Blick auf die Möglichkeiten und Ressourcen erweitert, die trans* Personen nutzen (können), um eine gelingende Sexualität zu leben.
Robin Bauer (Stuttgart)
Publication History
Article published online:
06 September 2022
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