Notfallmedizin up2date 2023; 18(03): 253-273
DOI: 10.1055/a-1875-5421
Allgemeine und organisatorische Aspekte

Zwischen Blaulicht, Blitzlicht und Zuschauenden

Das Fotografieverhalten von Rettungskräften
Dennis Wengenroth
,
Marisa Przyrembel
,
Harald Karutz

Personen, die an Einsatzorten fotografieren, werden meist despektierlich als „Gaffende“ kritisiert und als störend erlebt. Erhebungen zum Fotografieverhalten von Rettungsfachkräften selbst sowie zu den Verwendungszwecken der aufgenommenen Bilder fehlen bislang. Interview- (n = 14) und Fragebogendaten (n = 296) können diese Lücke erstmals empirisch schließen. Die Auswertungen bieten Denkanstöße, um die emotional aufgeladene Fachdiskussion zu versachlichen.

Kernaussagen
  • Diese Studie untersucht erstmalig das Fotografieverhalten von Rettungsfachkräften an Einsatzorten. 14 Expert*innen aus Rettungsdienst, Berufs- und Freiwilliger Feuerwehr mit im Durchschnitt 11 Jahren Einsatzdiensterfahrung berichten, dass durch ihre Berufsgruppe selbst Bildmaterial während aller Phasen der Einsätze erstellt wird.

  • Eine quantitative Online-Erhebung unter aktiven Rettungsdienstmitarbeitenden (n = 296) aus 12 Bundesländern bestätigt die Ergebnisse der qualitativen Interviewstudie: 77,3% der Einsatzkräfte fertigen selbst Fotografien an, 95,1% beobachten Fotografieverhalten im Kolleginnen- und Kollegenkreis. Genutzt wird hierzu meist das private Mobiltelefon (71,6%).

  • Annähernd 79% der Einsatzkräfte sind rechtliche Handlungsanweisungen im Umgang mit Fotografien an Einsatzstellen bekannt. Knapp 76% äußern jedoch, dass regelmäßige Aus- und Fortbildungen zum korrekten Umgang mit Fotografien an Einsatzstellen stattfinden sollten. Gut 66% der Rettenden nehmen ihr eigenes Fotografieverhalten im Gegensatz zu dem von Personen, die sich ohne rettungsdienstlichen Hintergrund an Einsatzstellen aufhalten, als legitim wahr.

  • Daten aus Interviews und Fragebogen zeigen, dass entstandenes Bildmaterial neben dienstlichen auch zu privaten Zwecken, u. a. in den sozialen Medien, genutzt wird. Diese Verwendung wird von Rettenden teils selbst kritisch reflektiert.

  • Interviewte Personen äußern z. T. rechtliche Bedenken zu selbst erlebten Fällen, in welchen durch Rettungsfachkräfte angefertigtes Bildmaterial an Einsatzorten nach § 201a StGB Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzt.

  • Die vorliegenden Ergebnisse können dazu beitragen, die Erstellung von Bildmaterial als wiederholt vorkommende Handlung an Einsatzorten zu begreifen und die zugrunde liegenden psychologischen Motive berufsübergreifend zu verstehen.



Publication History

Article published online:
26 September 2023

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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