PiD - Psychotherapie im Dialog 2023; 24(02): 14-15
DOI: 10.1055/a-1879-0876
Editorial

Psychotherapie in Krisenzeiten

Volker Köllner
,
Christoph Flückiger

Nach der Krise ist vor der Krise

Von der ersten Idee des Titelthemas bis zur Drucklegung des Heftes vergehen bei der PiD zwei bis drei Jahre. Unsere erste Idee, ein Heft über Anpassungsstörungen zu machen, erschien uns angesichts der gerade über uns hereingebrochenen Corona-Pandemie und der heraufziehenden Klimakrise allerdings zu kurz gegriffen. Und kaum waren mit der Impfung und sinkender Mortalität erste Lichtstreifen am Corona-Horizont zu erkennen, brach der Krieg in der Ukraine aus. Unsere jährliche Herausgebersitzung 2022 fand nur wenige Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine statt, und neben der Frage, was dieser Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft für uns und unser Leben bedeuten würde, standen Gedanken dazu, wie sich diese Krise auf unsere Arbeit in der Psychotherapie auswirken würde.

So kam unser Entschluss, das Heft „Psychotherapie in Krisenzeiten“ zu nennen. Dabei sollte es einerseits darum gehen, wie Psychotherapie Menschen helfen kann, Krisenzeiten zu bewältigen oder sogar neue Ressourcen dabei zu gewinnen – sowohl individuelle und zeitlich begrenzte Krisen, z. B. Trennungen oder Arbeitsplatzkonflikte, als auch globale Krisen wie der Krieg in der Ukraine oder die Corona-Pandemie. Andererseits sollte es Beiträge dazu geben, was die Pandemie mit uns und unseren Patientinnen und Patienten macht – ob und wie sich Psychotherapie in Krisenzeiten verändert.

Kontinuität überwiegt Brüche

Auf den ersten Blick konnten wir hier keine großen Veränderungen feststellen – um es in Anlehnung an den deutschen Philosophen Sepp Herberger zu sagen: „Eine Psychotherapiestunde dauert noch immer 50 Minuten“. Bei unserem Treffen 2022 stand der Gedanke im Raum, wie unsere Gesellschaft, die sich noch nicht von der Corona-Krise erholt hatte, nun auch noch die Auswirkungen des Ukraine-Krieges bewältigen soll – und ob die Bewältigungsressourcen auf individueller Ebene nicht irgendwann erschöpft sein werden. Davon unbeeindruckt, gelang es uns aber, einen weiteren PiD-Jahrgang zu planen, und auch unser Treffen 2023 lief ab wie gewohnt. Auch unser Austausch untereinander ergab den Eindruck, dass die Kontinuität die Brüche überwog – unser Alltag hatte sich kaum verändert und der unserer Patientinnen und Patienten in vielen Fällen auch nicht. Einige Herausforderungen waren tatsächlich neu hinzugekommen, z. B. das Post-COVID-Syndrom (mehr dazu im nächsten Heft) und v. a. diejenigen von uns, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, berichteten von deutlich höher belasteten Patientinnen und Patienten. Insgesamt waren wir aber fast schon erstaunt darüber, wie „normal“ das Leben weitergegangen war oder wie schnell sich eine Art neuer Normalität einzustellen vermag. Insgesamt hatten wir den Eindruck, dass die Strategien, die wir unseren Patienten zur Krisenbewältigung vermitteln, auch bei uns selbst funktionieren.

Wir werteten dies als Zeichen für eine teilweise überraschend hohe Resilienz – oder, etwas weniger positiv ausgedrückt, Beharrungsfähigkeit, sowohl unserer demokratischen, kulturellen und ökonomischen Institutionen als auch in uns und unseren Patientinnen und Patienten. Es gibt aber auch beunruhigendere Gedanken: „Ist das alles nur die Ruhe vor dem Sturm – so wie im Sommer 1914?“ Geht es uns wie dem Mann, der aus dem 100. Stock eines Gebäudes fällt und der bei jeder Etage, die er passiert, sagt: „Bisher ist noch alles gut gegangen!“? Lassen Sie sich mit uns überraschen, wie unsere Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen mit diesem Spannungsfeld umgehen – was sie von Belastungen, Ressourcen und Bewältigungsstrategien zu berichten wissen.

Bewusst verzichtet haben wir dabei auf einen Beitrag zur Klimakrise – ein oder zwei Beiträge erschienen uns hier zu kurz gegriffen, und ganze Themenhefte gibt es schon bei anderen Zeitschriften.


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Dauerkrise organisierte Gewalt

In einer Art Dauerkrise leben Menschen, die Opfer von organisierter und dabei meist sexualisierter Gewalt wurden. Um die Frage, wie diesen Menschen geholfen werden kann, ist gerade eine sehr emotionalisierte Debatte entbrannt, das Thema hat ein erhebliches Spaltungspotenzial. In einigen Medien wurden massive Vorwürfe formuliert, Berichte von Patientinnen und Patienten würden unkritisch für Tatsachen gehalten oder Erinnerungen würden sogar fälschlicherweise suggeriert, entsprechend einem „Wahn der Therapeuten“. PiD hat sich des Themas „Umgang mit Erinnerungen“ schon früh auf differenzierte Weise angenommen, siehe z. B. der Praxisbericht von Eva Maria Meiser-Storck „Der Umgang mit der Ahnung – Vermutung von Traumatisierungen in der Vergangenheit“ in Ausgabe 2/2019 oder der aussagenpsychologische Beitrag „Sexueller Missbrauch“ von Renate Volbert im Themenheft „Sexuelle Traumatisierung“, Ausgabe 1/2014. In Ausgabe 4/2022 erschien ein Bericht zu diesem Thema unter der Rubrik „Ein Fall – verschiedene Perspektiven“. Angesichts der aktuellen Debatte und der Komplexität des Themas wollten wir hier etwas mehr in die Tiefe gehen und freuen uns, dass Martin Sack in seinem Beitrag „Psychotherapeutische Behandlung von Opfern organsierter Gewalt – eine Standortbestimmung“ diesen Krisenherd nun genauer beleuchtet.

Wir wünschen Ihnen trotz der schwierigen Themen viel Freude beim Lesen.

Volker Köllner
Christoph Flückiger


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Publication History

Article published online:
31 May 2023

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