Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2022; 29(05): 201
DOI: 10.1055/a-1909-7751
Editorial

Exploration – Nicht ohne den ganzen Menschen

Oliver Ullrich
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Prof. Dr. Dr. Oliver Ullrich

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die bemannte Exploration des Weltraums bedeutet das Vordringen des Menschen als Bewohner der Erde in eine Umgebung, die unserer biologischen Struktur und Physiologie fremd ist, in einen Raum, der mit unserer Geschichte nicht verbunden ist, und einem Ziel folgend, das aus dem Sein und Wesen des Menschen folgt. Um die Biologie und Physiologie kümmert sich die Raumfahrtmedizin mit ihren empirischen und experimentellen Methoden. Dagegen ist das Unterwegssein im offenen Raum der Geschichte und die Frage des Sinns und Zieles der Empirie nicht zugänglich. Dennoch ist beides elementar für das Verständnis der Exploration. Es ist so elementar, dass Exploration tief im Wesen des Menschen verortet wird, als „the essence of the human spirit“ (Frank Borman) oder als „a desire written in the human heart“ (George W. Bush).

Exploration bedient sich den empirischen Wissenschaften und der Technologie als Werkzeuge und betrachtet sie gleichzeitig als Ziel des nach Erkenntnis und Nutzen suchenden Menschen. Aber Wissenschaft und Technologie sind nicht der Mensch, der Mensch ist deutlich mehr. Wo sich Medizin mit dem Menschen beschäftigt, als Objekt, wie auch als erkennendes und handelndes Subjekt gleichzeitig, hat die Medizin inhärente Schnittstellen mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen und Methoden, die das Sein des Menschen zum Gegenstand haben. Erste systematische Entwicklungen zu multisektoralen und transdisziplinären Ansätzen auf verschiedenen Struktur- und Komplexitätsebenen erleben wir aktuell mit dem One-Health-Konzept der WHO. Gerade aufgrund des enormen Zuwachses an Datenmengen und Spezialwissen in der modernen Wissenschaft ist die interdisziplinäre Integration ein Muss. Gelingt diese nicht, verliert sich der Erkenntnisvorgang in eine hochspezialisierte, aber reduktionistische Vereinzelung, die zu falschen Schlüssen führt, und anstatt zur Weisheit führt sie zur vielwissenden Dummheit. Interdisziplinarität ist heute nicht mehr nur Zugewinn, sondern Notwendigkeit modernen wissenschaftlichen Arbeitens. Zur Interdisziplinarität gehört – neben dem grundlegenden Respekt für das andere Fachgebiet – Demut und Bescheidenheit vor der jeweils beschränkten epistemologischen Reichweite des eigenen Faches.

In der menschlichen Exploration geben uns die Technologien und empirische gewonnenen Erkenntnisse noch keine Antworten über den Sinn. Ein dem Erdbewohner Mensch gerecht werdendes Verständnis über den Sinn und das Ziel der bemannten Exploration des Weltraums erfordert Brücken zu anderen Disziplinen. Der Medizin sind derartige Brücken nicht fremd, im Gegenteil, sie gehören zum Kern der Medizin. Denn Medizin beschäftigt sich mit dem Leben, mit dem Tod, mit dem Heil des Menschen. Dieses sind keine technologischen Dimensionen, es sind ontologische Dimensionen. Die Exploration des Weltraums durch den Menschen wird ohne interdisziplinäre Brücken zwischen allen Wissenschaften nicht möglich sein. Allein das Nachdenken darüber, dass bei der Erforschung des Universums Fragen gestellt werden müssen, die weit über die Technologie und die Naturwissenschaften hinausgehen, könnte einen Verstandesprozess auslösen, um die interdisziplinäre Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung auf der Erde und darüber hinaus zu schaffen.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
10. Oktober 2022

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