Die Wirbelsäule 2022; 06(04): 212-215
DOI: 10.1055/a-1915-2099
Referiert und kommentiert

Kommentar zu: Dorsal instrumentation with and without vertebral body replacement in patients with thoracolumbar osteoporotic fractures shows comparable outcome measures

Frank Hassel
1   Orthopädische Chirurgie, Loretto-Krankenhaus Freiburg, Freiburg i.Br., Deutschland
› Author Affiliations

Osteoporotische Wirbelfrakturen betreffen etwa 25% der Bevölkerung im Alter von über 70 Jahren [1] [2]. Obwohl es zahlreiche Algorithmen für die Therapie der osteoporotischen Wirbelfraktur gibt, die den klinischen Entscheidungsprozess erleichtern, fehlen derzeit insbesondere noch Daten, die das chirurgische Verfahren der dorsalen Instrumentation mit und ohne Kyphoplastie sowie des Wirbelkörperersatzes (VBR) als reliable Therapieoption bei Betroffenen untersuchen.

Schwendner und Kollegen haben nun mit ihrer retrospektiven monozentrischen Kohortenstudie die klinischen und radiologischen Ergebnisse von osteoporotischen Frakturen der Brustwirbelsäule mit oder ohne kombinierte 360°-Instrumentierung in einer Patientenkohorte bewertet [3]. Obwohl die Autoren darauf hinwiesen, dass die Studie nicht beabsichtigte, beide Ansätze als konkurrierende Optionen zu vergleichen, weisen der Titel der Arbeit und die zahlreichen durchgeführten paarweisen Statistiken auf eine vergleichende Untersuchung hin. Die Studie von Schwendner und Kollegen ist insbesondere deshalb von klinischer Relevanz, da es derzeit in der Literatur an vergleichenden Untersuchungen hierzu mangelt.

Die Autoren schlossen insgesamt 116 Patienten ein und untersuchten eine Reihe an Outcomes, einschließlich Komplikationen, den EQ5D und radiologische Outcomes der chirurgischen Korrektur. Die Ergebnisse zeigten hierbei, dass die Studiengruppen sich hinsichtlich dieser Ergebnisse nicht signifikant unterschieden. Die Ergebnisse der Autoren sind von Relevanz für die Planung zukünftiger Studien. Nichtsdestotrotz weist die angewendete Methodik einige Limitationen auf. Das patientenzentrierte Outcome EQ5D wurde zu unterschiedlichen nicht definierten Follow-up Zeiträumen erhoben und verglichen. Hierbei wurden keine Baseline-Werte vor der Operation angegeben. Die Vergleichbarkeit der beiden Gruppen ist somit stark eingeschränkt. Zudem umfasste der Follow-up Zeitraum einen großen Bereich von 0,3–9,04 Jahren für die 360°-Instrumentierung und 0,13–11,84 Jahre für die dorsale Instrumentierung. Die berichteten Ergebnisse wurden somit nicht in bestimmten Nachbeobachtungsintervallen bewertet. Weiterhin wurde nicht angegeben, wie viele Chirurgen die Eingriffe durchführten und wie die Erfahrung dieser Chirurgen war. Eine weitere Limitation ist die Beschränkung auf paarweise Vergleiche. Hierbei werden andere potenziell beeinflussende Variablen bei den Einzelvergleichen nicht berücksichtigt. Techniken, die hierbei in Zukunft eingesetzt werden könnten, um ein präziseres Effektmaß zu erhalten, sind das Propensity Score Matching und die Regressionsanalyse [4]. Diese statistischen Techniken helfen dabei, trotz der fehlenden Randomisierungsmöglichkeit im Rahmen von retrospektiven Studien, eine Vergleichbarkeit der Therapiegruppen zu schaffen. Die Tatsache, dass es bei den meisten berichteten Ergebnissen keinen Unterschied gab, könnte damit zusammenhängen, dass die Stichprobengröße in den Gruppen nicht ausreichte, um eine ausreichende statistische Aussagekraft zu erzielen. Bei der Betrachtung des EQ5D wird der minimal wichtige Unterschied (minimum clinically important difference; MCID) in der Literatur mit 0,18 angegeben [5]. Eine Berechnung des Stichprobenumfangs mit einem mittleren Unterschied von 0,18 und einer Standardabweichung von 0,33 würde eine minimale Stichprobengröße von n=93 Patienten in jeder Gruppe erfordern, um eine statistische Stärke von 80% zu erreichen (Wilcoxon-Mann-Whitney-Test für 2 Gruppen). Die Stichprobengröße in der Studie könnte daher möglicherweise nicht ausgereicht haben, um ein signifikantes Ergebnis zu produzieren. In Bezug auf die radiologische Auswertung ist anzumerken, dass das präoperative CT im Liegen gegen das postoperative, zweidimensionale Röntgenbild im Stehen verglichen wurde, um das Korrekturmaß zu erhalten. Unterschiedliche Bildgebungsmodalitäten könnten zu einer Verzerrung der Ergebnismessungen führen. Dies scheint sich in gewisser Weise auch in der hohen Variabilität widerzuspiegeln, die im grafischen Vergleich der Abbildung 2 in der Arbeit zu sehen ist. Es sei abschließend anzumerken, dass die Autoren diese Limitationen zwar nicht aufgeführt haben, jedoch im Schlusswort darauf hinwiesen, dass die Studie nicht das Ziel hatte, die beiden Therapieoptionen zu vergleichen, obwohl die Methodik und der Titel der Arbeit dies suggerieren. Vielmehr sollte die Arbeit eine deskriptive Beschreibung der klinischen Realität mit den genannten Therapieoptionen liefern.

Insgesamt leisteten Schwendner et al. einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der 360° Instrumentation als Therapieoption in der klinischen Praxis. Trotz der Limitationen der Studie sind die Ergebnisse, insbesondere für zukünftige prospektive Arbeiten hilfreich. Basierend auf den Ergebnissen scheint die 360°-Instrumentierung eine nützliche chirurgische Strategie zu sein, insbesondere dann, wenn die behandelnden Chirurgen an einer ausreichenden langfristigen Stabilität des Konstrukts zweifeln oder eine erhebliche ventrale Stenose vorliegt [3]. Laut der Erfahrung der Autoren stellen insbesondere die perkutane dorsale Instrumentierung plus anteriore Spinalkanaldekompression und VBR eine minimalinvasive Option dar, wenn eine anteriore Spinalkanalstenose vorliegt [3]. Diese vielversprechenden Ergebnisse könnten dazu beitragen, die zukünftige evidenzgerechte Behandlung von betroffenen Patienten zu verbessern.



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Article published online:
14 November 2022

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