PiD - Psychotherapie im Dialog 2023; 24(03): 12-14
DOI: 10.1055/a-1935-6688
Editorial

Fatigue

Henning Schauenburg
,
Bettina Wilms

Ein unermüdliches Streitthema

Manchmal ist die Beschäftigung mit dem Thema unseres Heftes erschöpfend. Das haben wohl sehr viele Kolleg*innen schon erlebt. Bei genauer, neugieriger Betrachtung ändert sich dies jedoch: Man ist erstaunt – über die besondere Emotionalität, die gesellschaftliche Brisanz des Themas und nicht zuletzt über das Chaos an Begrifflichkeiten und Erklärungsmodellen. Unsere vermessene Vorstellung war also, ein bisschen „Ordnung“ und Klarheit in die Diskussion zu bringen.

Wir hoffen sehr, dass uns die Klärung ein bisschen gelungen ist. Fatigue (englisch, so als helfe dies bei der „Objektivierung“) ist ein schillerndes Phänomen. Ungeachtet dessen begleitet es die Menschheit schon seit Langem. Am besten ist es vielleicht zu verstehen, so unsere Idee, als eine Art komplexe Emotion angesichts von erlebter subjektiver Unfähigkeit, ein inneres oder von außen vorgegebenes „Ziel“ zu erreichen. Dies kann, muss aber nicht mit selbstzweifelnd-depressiven Affekten einhergehen. Es steht in engem Zusammenhang mit real bestehenden körperlichen Schäden bzw. Einschränkungen und hat doch auch eine psychologische Eigendynamik, weshalb es in der Geschichte und in unserer Gesellschaft, auch unabhängig von Pandemien, schon seit langer Zeit präsent war und ist.

Die historische Dimension

In unserem Heft wollten wir diese historische und letztlich auch die zeitlose leibphilosophische Dimension nicht vernachlässigen und hoffen, die Artikel von Broschmann und Deister tragen hier zu einem breiteren Verständnis dieses aktuell am meisten im Zusammenhang mit Long-COVID diskutierten Krankheitsbildes bei.

Ebenso gehört dazu, dass es neben den heute relevanten postinfektiösen Facetten schon immer wichtige somatische Krankheitsbilder gab, bei denen die Neigung zu Erschöpfung eine große Rolle spielte, etwa in der Onkologie und bei Multipler Sklerose. Fleischer et al. und Pöttgen & Penner gehen hierauf ein, letztere erfreulicherweise auch mit einem begleitenden Vorschlag zur elektronischen Unterstützung der Patient*innen.

Insgesamt nehmen natürlich Long- und Post-COVID den größten Raum in diesem Heft ein. Angefangen bei den umstrittenen Fragen der Ursache für die langwierigen Verläufe. Für die Klärung der Begriffe und Phänomene in diesem Zusammenhang ist die Arbeit von Renz-Polster et al. hilfreich, weil sie u. a. den Stand der Differenzierung von Subgruppen gut darstellt, wie auch die Bedeutung dieser Verläufe für Kinder und v. a. Jugendliche.

Komplexe Ätiologieüberlegungen schildern Schilling & Körner-Rettberg und machen dabei deutlich, wie weit weg wir noch von wirklich befriedigenden Erklärungen sind. Auf den besonderen und natürlich angesichts einer Infektionserkrankung besonders wichtigen Bereich der (Psycho-)Immunologie geht Peters ein, die auch kritisch die Unspezifität der meisten Befunde erwähnt.


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Subjektive Körperwahrnehmung

Angesichts der intensiven und schwer zu greifenden Diskussion um die Ursache von schweren Post-COVID-Verläufen möchten die Herausgeber des Heftes in einem eigenen Artikel auf den leicht übersehenen oder vielleicht auch bagatellisierten Aspekt der subjektiven Körperwahrnehmung als ergänzende Aspekt der Ätiologie-Diskussion eingehen (Schauenburg). Dieser wäre anzusiedeln zwischen einer klassischen Psychogenesezuschreibung und deren „Abwehr“ einerseits und der Suche nach möglichst eindeutigen körperlichen Ursachen andererseits. Die Idee ist hier, dass die Einbeziehung unbewusster Wahrnehmungseinengungen eine sinnvolle Erweiterung unseres psychosomatischen Verständnisses darstellen könnte.

Wir alle wissen, welche gravierenden Folgen eine Post-COVID-Erkrankung haben kann, was finanzielle und versicherungsrechtliche Fragen aufwirft, die spezifisch und unter Beschreibung eines systematischen Vorgehens von Widder & Tegenthoff dargestellt werden. In einer allgemeineren Sicht und unter Einbeziehung eines typischen „schwierigen“ Gutachtenfalles nehmen sich auch Gruner & Grömer der Problematik an. Die Schwierigkeit, der subjektiven Situation der einzelnen Patient*innen gerecht zu werden, kann offensichtlich nur durch sehr genaue Einbeziehung der Gesamtanamnese und der Alltagsbewältigung gelingen.


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Graded Exercise und Pacing

Die therapeutische Unterstützung der Betroffenen gestaltet sich aus vielerlei Gründen oft schwierig. Deshalb beginnen wir den therapeutischen Teil mit den aktuellen Leitlinien der AWMF (Baum et al.) die allerdings als eine Art „Work im Progress“ zu verstehen sind, weil sich die Lage im Bereich der Therapie weiterhin ändert. Leitlinien sind aber besonders wichtig, weil naturgemäß bei einem solchen Krankheitsbild viele Behandlungsvorschläge „auf den Markt“ kommen, deren Evidenz nicht wirklich gut ist. Ein besonders intensiver Streit rankt sich um den Nutzen von Psychotherapie. Traditionell war in den vergangenen Jahrzehnten der psychotherapeutische Ansatz in geringem, aber wichtigem Umfang mit dem behavioralen Vorgehen des gestuften Trainings (Graded Exercise) verknüpft. Aus negativen Erfahrungen bei einzelnen Patient*innen entstand dann das Konzept des „Pacing“, das sich möglichst nah am subjektiven Erleben der Patienten orientiert und versucht, kontraproduktive Erschöpfungszustände zu vermeiden. An dieser Stelle können wir allerdings nicht verhehlen, dass es uns bei der Beschäftigung mit der aktuellen Literatur doch bemerkenswert erscheint, dass sich die Gemeinde der mit Post-COVID befassten Ärzte und Therapeuten scheinbar an der Frage „Pacing vs. Graded Exercise“ spaltet. Da kann einem Sigmund Freud einfallen, der bei vergleichbaren Dingen vom Narzissmus der kleinen Differenz sprach. Allerdings steckt hinter diesem scheinbar kleinlichen Streit eine Menge an wechselseitigen Vorwürfen, sei es der einseitigen somatischen Orientierung einerseits, sei es der psychologischen „Schuld“zuschreibung und Stigmatisierung andererseits. Irgendwann wird eine eigene Geschichte dieser Auseinandersetzung zu schreiben sein, in der beide „Seiten“ jeweils fest davon überzeugt sind, das Beste für die Betroffenen erreichen zu wollen. Eine sehr moderne Spaltung.

Wir haben zumindest aus zwei Bereichen Berichte erhalten können, die zeigen, dass Betroffene in jedem Fall von psychotherapeutischen Interventionen (hier: Gruppentherapie, Zimmermann-Schlegel & Groenewold, und stationäre Rehabilitations-Behandlung, Kupferschmitt et al.) profitieren können. Uns ist aber natürlich auch bewusst, dass die Zahl der Patient*innen zunimmt, die nach solchen kurzen und begrenzen Interventionen mit unverändertem, selten auch verschlechtertem Zustand zu Weiterbehandelnden kommen, nicht zuletzt gelegentlich in die Psychiatrie aufgenommen werden. Hier eine Differenzialindikation zu stellen und auch zu gewährleisten, dass die Risikopatienten weitere Begleitung und langfristige, im wahrsten Sinne des Wortes psychosomatische Therapie erhalten, ist also eine ganz eigene Aufgabe.

Dass zu einer solchen langfristigen therapeutischen Begleitung auch Versuche gehören sollten, die festgefügten Körperwahrnehmungen und Ursachenzuschreibungen der Betreffenden vorsichtig zu „verflüssigen“, beschreiben Lehnen et al. und berichten auch über eine diesbezüglich durchgeführte Studie und Befunde aus der Literatur.

Was erwartet Sie also insgesamt in diesem Heft? Eine Sicht auf die nichtmedizinischen Facetten des Themas ebenso wie eine gewisse Irritation angesichts der Härte mancher Auseinandersetzungen zum Thema, aber auch die Aufforderung zur Demut angesichts der Wucht dieses Virus und der Pandemie. Bei dieser zeigt sich, dass, bei angemessener Berücksichtigung und oft auch einfach durch den Verlauf, die meisten Menschen über kurz oder lang wieder ihre alte Lebensfreude und Leistungsfähigkeit erlangen. Denjenigen, denen dies verwehrt ist, möglichst gut zu helfen und sich auf ihre subjektive Situation einerseits einzustellen, aber auch einen Blick für die Schwierigkeiten der Subjektivität zu behalten und erweiterte Horizonte anzubieten, ist das Ziel unseres Heftes. Wir würden uns freuen, wenn wir die Diskussion dazu mit den Beiträgen unserer Autoren beleben können.

Henning Schauenburg
Bettina Wilms


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
28. August 2023

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