PiD - Psychotherapie im Dialog 2023; 24(03): 102-103
DOI: 10.1055/a-1935-6786
Resümee

Fatigue

Im Gespräch bleiben und sich zuhören

Möglicherweise werden Sie sich über den Titel dieses Resümees wundern. Als wir uns entschieden, dieses Heft herauszugeben, ahnten wir, dass es nicht leicht werden würde, das Phänomen „Fatigue“ und die unterschiedlichen Sichtweisen darauf in einer Ausgabe zu integrieren. Wir sahen v. a. historische Begrifflichkeiten, aktuelle inhaltliche Kontroversen und die Frage nach hilfreichen Unterstützungsansätzen im Mittelpunkt unserer Versuche, unseren Leser*innen einen aktuellen Überblick über die psychotherapeutisch relevanten Aspekte einer Fatigue-Symptomatik zur Verfügung zu stellen.

Eine erwartbare Kontroverse

Noch nie in der modernen Menschheitsgeschichte war in kurzer Zeit eine derartig hohe Anzahl von Menschen von einer Viruserkrankung betroffen wie während der Corona-Pandemie. Mechanismen, wie sie in der Fachliteratur zu Zeiten der Spanischen Grippe in den 1920er-Jahren beschrieben wurden, Verläufe, wie wir sie von Infektionen mit anderen Viren wie dem Epstein-Barr-Virus kannten, fanden wir diskussionswürdig. Unser Anliegen war und ist es, eine Brücke zu Verläufen zu schlagen, die es einerseits immer schon gab, die jetzt aber eine ungleich höhere Anzahl von infizierten Menschen treffen: Viruserkrankungen heilen meist ohne dauerhaft negative Folgen für die betroffenen Menschen aus. Nicht selten ist die Rekonvaleszenz von längeren Phasen der Erschöpfung geprägt, doch auch dies heilt in den meisten Fällen vollständig aus. Nicht zuletzt populärwissenschaftliche Annäherungen, z. B. der Roman „Zeit des Erwachens“ von Oliver Sacks, machten aber auch schon weit vor der Pandemie darauf aufmerksam, dass schwere neurologische Folgeerkrankungen, wenn auch selten, durchaus vorkamen und vorkommen. Erwartbar war daher, dass die enorme Zahl an infizierten Menschen auch bei geringen Prozentanteilen unvergleichbar mehr Menschen mit erheblichen und teilweise schweren Folgeerkrankungen nach der Pandemie zurücklassen würden. Erwartbar war auch, dass die fachliche Diskussion darum sich ähnlich kontrovers entwickeln würde, wie in den 1920er-Jahren.


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Von der Schwierigkeit der richtigen Begriffswahl

Und auch wenn „Fatigue“ nicht etwas ist, das auf Folgen einer COVID-Erkrankung beschränkt ist, sondern z. B. bei onkologischen Erkrankungen und anderen chronisch verlaufenden Erkrankungen viele Patient*innen betrifft, ist doch die Diskussion aktuell, fachlich wie populärwissenschaftlich, davon dominiert. Dies zeigt sich nicht nur in der Rubrik Dialog Books. Wir mussten erfahren, dass allein der Begriff „Fatigue“ Gruppen von Long-COVID-Betroffenen in große subjektive Nöte bringt, die wir in dieser Form nicht erwartet hatten. Die Assoziationen, die mit der deutschen Übersetzung „Müdigkeit“ und „Erschöpfung“ teilweise reflexartig Kränkungs- und Entwertungsgefühle auslösen, haben uns in ihrer Heftigkeit überrascht. Sie sind von den allermeisten Kolleg*innen, die im psychotherapeutischen Feld arbeiten, weder intendiert, noch gewünscht. Wir glaubten dabei eigentlich, dass dichotome „entweder/oder“ Debatten und erbittert ausgetragene Diskussionen zur Genese, die um Grenzlinien somato-psychischer und psycho-somatischer Konzepte ringen, der Vergangenheit angehören.

Dennoch haben wir anzuerkennen, dass bereits die Wortwahl „Fatigue“ im klinischen und alltagssprachlichen Kontext sowie dessen Attribuierung aktuell sowohl Wege in hilfreiche Kontakte bahnen als auch diese möglicherweise im Beginn eines Beziehungsaufbaus bereits nachhaltig stören kann. Dabei wird ein tief empfundenes Gefühl der Abwertung angesprochen, obwohl der Begriff „Fatigue“ in der Bezeichnung ME/CFS grundsätzlich vorkommt. Hieran knüpft der Prozess einer Gruppenbildung an, der begünstigt, dass Betroffenen teilweise sogar explizit von einer Psychotherapie abgeraten wird. Zugespitzt: „Wer von Fatigue spricht, erkennt nicht, dass es eigentlich um die PEM (Post-Exertional Malaise)-Symptomatik geht und kann daher schon allein deshalb nicht hilfreich sein.“ Wir halten diese Entwicklung für besorgniserregend, weil wir davon überzeugt sind, dass Menschen, die von schweren Erkrankungsverläufen mit chronischen Beschwerdebildern betroffen sind, u. a. auch auf psychotherapeutische Behandlungsangebote zurückgreifen können sollten und dies nicht davon abhängig sein sollte, ob der Therapeut von „Fatigue“ spricht.


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Die Patient*innen in den Mittelpunkt stellen

Während dieses Themenheft entstand, wurden die Leitlinien zum Beschwerdekomplex des ME/CFS überarbeitet. Dem tragen viele Autor*innen Rechnung, etwa in den Beiträgen zum Post-COVID-Syndrom (z.B, Schilling et al.), Therapieansätzen in der Rehabilitation (Kupferschmitt et al.) und auch bezogen auf die Situation von Kindern und Jugendlichen (Renz-Polster et al.). Unabhängig von den verwendeten Begriffen sollten die einzelnen Patient*innen mit ihrer Lebenssituation im Mittelpunkt aller Behandlungsbemühungen stehen, ebenso wie die kontinuierliche fachliche Weiterentwicklung der therapeutischen Qualität, die sich daran orientiert. Für uns gilt diese Prämisse uneingeschränkt auch für die Kontroversen um Graded Exercise und Pacing: Es sollte letztendlich nicht um die Glaubenssätze von professionellen Helfer*innen gehen, sondern um die Menschen, die sich uns anvertrauen und die Evidenz, die in wissenschaftlichen Studien erarbeitet wird.

Wir sind dankbar, dass es möglich war, dem Erleben einer betroffenen Patientin auch in dieser Ausgabe der PiD eine Stimme zu geben. Es bleibt zu hoffen, dass Dialoge und Kontroversen bei allem Dissens über Gedanken zu Genese und indiziertem therapeutischen Vorgehen ausdrücken, wozu Konflikte gut sind: Sie entstehen zwischen Menschen, die aneinander und an der Sache, um die es ihnen geht, Interesse haben. Forschungsbemühungen sollten die Breite der Debatte abbilden und im besten Sinne des Wortes die Kultur einer anerkennenden Kontroverse wiederbeleben.

Wir hoffen, dass in diesem Sinne Kontakte und Austausch möglich werden und sich die „Lagerbildung“ nicht weiter verfestigt. Im Interesse der betroffenen Patient*innen sollten wir als Psychotherapeut*innen alles von unserer Seite Mögliche dazu tun.

Wir hoffen also, Sie hatten eine spannende Lektüre, haben neue Blickwinkel entdeckt und sind vielleicht noch mehr gespannt darauf, weiterhin zuzuhören.

Bettina Wilms

Henning Schauenburg


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Publication History

Article published online:
28 August 2023

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