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DOI: 10.1055/a-1959-5048
Sucht
Wenn das Verlangen unkontrollierbar wird
Sucht und Abhängigkeit werden synonym verwendet. „Sucht ist das nicht mehr kontrollierbare Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- und Bewusstseinszustand“ – so lautet die offizielle Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Grundsätzlich kann jeder Mensch süchtig werden. Der Homburger Wissenschaftler Klaus Wanke schreibt anschaulich: „Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Individuums“.
Sucht als Flucht
Sucht wird aber auch verstanden als das zwanghafte Verlangen nach bestimmten Substanzen oder Verhaltensweisen, die Missempfindungen vorübergehend lindern und erwünschte Empfindungen auslösen. Diese Perspektive verweist darauf, dass es nicht nur um Sehnsucht, um das Erlangen eines bestimmten Zustands geht, sondern auch um Flucht, um die Vermeidung eines unangenehmen Zustandes, was Kliniker in den verschiedenen Motiven hinter der Sucht bestätigen werden.
Vielfach wird Sucht in der Kunst thematisiert. Daran, wie Herbert Grönemeyer 1984 sein „Alkohol“ mit lauter Stimme grölt, hat sicher jede/r im Ohr. Er singt: „Alkohol ist dein Sanitäter in der Not. Alkohol ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot. Alkohol ist das Drahtseil, auf dem du stehst. Alkohol ist das Schiff mit dem du untergehst“. Auch er verweist auf die Flucht aus einem Kummerzustand als Motiv.
Die Süchte sind verschieden – die Motive hinter der Sucht sind es auch: Dem Alltag entfliehen, Probleme, Kummer oder Einsamkeit, die übermächtig wird – oder im Gegenteil: die Gruppe, in der man mithalten muss, Anerkennung sucht. Auch dieser Verschiedenheit der Süchte widmet Grönemeyer einige Zeilen: „Die Nobelszene träumt von Kokain. Und auf dem Schulklo riecht′s nach Gras. Der Apotheker nimmt Valium und Speed. Und wenn es dunkel wird, greifen sie zum Glas.“
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Süchte sind vielfältig
Wir haben in unserem Heft ebenfalls ein buntes Spektrum verschiedener Süchte eröffnet. Damit wir Ihnen keinen alten Wein in neuen Schläuchen servieren, haben wir aber jeweils den aktuellen Stand und auch die neuen Trends berücksichtigt, z. B. die Legalisierungsdebatte zum Cannabis. Obgleich man noch aus vielen anderen Perspektiven auf dieses streitbare Thema schauen könnte, haben wir uns dazu entschieden, es bei einem Beitrag zu belassen, der insbesondere die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in den Blick nimmt, damit andere Themen ebenfalls ausreichend Raum finden.
Außer dem Beitrag zur Legalisierungsdebatte haben Rainer Thomasius und sein Team vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters einen State-of-the-Art-Beitrag zum Thema Sucht und Drogen bei Jugendlichen für unser Heft geschrieben. Die Genderperspektive, und hier insbesondere die Frage, ob und warum Männer für Sucht besonders empfänglich zu sein scheinen, also die Prävalenzen bei den meisten Suchterkrankungen der Männer die der Frauen um ein 2–3-faches übersteigt (mit einigen Ausnahmen, z. B. bei Medikamentenabhängigkeit), beleuchtet Michael Klein.
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„Sonderling“ Sucht
Sucht ist anders. Eigentlich eine psychische Erkrankung im ICD-10, wie etwa Depressionen oder Schizophrenie, wird sie doch irgendwie als etwas anderes, eigenes behandelt. Roland Schleiffer geht für uns der Frage nach, ob es sich um eine Erkrankung handelt oder doch eher um eine Verhaltensauffälligkeit. Gründe für Versorgungslücken bei Suchterkrankten und deren Auswirkungen beleuchten Martin Reker und Martin Driessen. Für die Exploration von Suchtthemen in der ambulanten Praxis und für Praktiker*innen geben Oliver Bilke-Hentsch und Kollegen wertvolle Hinweise. Monika Vogelsang widmet sich der Komorbidität von Suchterkrankungen, vor allem mit der Entstehung und Therapie dieses komplexen Bedingungsgefüges.
Joachim Körkel beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Sucht im Spektrum zwischen Abstinenzmonopolismus bis zur zieloffenen psychotherapeutischen Behandlung. Der Suchtbehandlung in der ambulanten Praxis widmet sich ein Beitrag von Clemens Veltrup. Bewährte und neue Trends in der Suchtbehandlung, inklusive Apps und Online-Angeboten, zeigt Johannes Lindenmeyer auf. Eine in ihren Konsequenzen oft unterschätzte Sucht, das Rauchen, beleuchtet Volker Köllner. Hans Räbiger-Stratmann stellt ein Elterncoaching mit dem Ziel von Elternpräsenz statt Suchpräsenz vor.
Auch die Perspektive der Betroffenen haben wir in unserem Heft aufgegriffen: „Nüchternheit als fröhliche Umkehr der Einsamkeit“, so hat Mika Mareike Döring ihren Beitrag benannt. Und schließlich werfen wir mit dem Beitrag zum integrierten Drug-Checking von Karsten Tögel-Lins und Kolleg*innen einen Blick über den Tellerrand.
Wir wünschen Ihnen vielfältige Anregungen bei der Lektüre!
Silke Wiegand-Grefe
Claudia Dahm-Mory
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Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
28. November 2023
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