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DOI: 10.1055/a-1960-5526
Allerdings! Bericht über den Fachtag „Sexarbeit in Thüringen“ am 4. Oktober 2022 in Erfurt
Am 4. Oktober 2022 lud die Fachberatungsstelle allerd!ngs – Support Sexwork Thüringen zu ihrem ersten Tag der offenen Tür und gleichzeitig zum ersten Fachtag „Sexarbeit in Thüringen“ ein. Die 2021 eingerichtete Beratungsstelle befindet sich in der Thüringer Hauptstadt Erfurt, nur einen Steinwurf vom Thüringer Landtag entfernt. Dieser hatte erst im Sommer 2021 das Thüringer Gesetz zur Ausführung des Prostituiertenschutzgesetzes (ThürAGProstSchG; Thüringer Landtag – 7. Wahlperiode, Drucksache 7/3376) verabschiedet, rund vier Jahre nach Inkrafttreten des Prostituiertenschutzgesetzes im Jahr 2017 (ProstSchG; Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode, Drucksache 18/8556). Das ThürAGProstSchG regelt, wie die im ProstSchG vorgeschriebene behördliche Anmeldung und Gesundheitsberatung der Sexarbeitenden in Thüringen durchzuführen und zu finanzieren ist. Zusätzlich ist im ThürAGProstSchG die Finanzierung der besagten Fachberatungsstelle verankert.
Die sogenannte „Prostituiertenschutzstatistik“ des Statistischen Bundesamtes weist 364 behördlich registrierte Sexarbeitende in Thüringen aus (Stand: 1. Juli 2021; https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Prostituiertenschutz/_inhalt.html). Das ThürAGProstSchG rechnet insgesamt mit 500 (zum Teil nicht angemeldeten) Sexarbeitenden im Bundesland. Dieser Zielgruppe will die Beratungsstelle allerd!ngs (https://allerdings-thueringen.de/) ein niedrigschwelliges, also anonymes, freiwilliges, kostenloses, mehrsprachiges und parteiliches Unterstützungs- und Begleitungsangebot im Online- und Offline-Modus bieten. Trägerin der Beratungsstelle ist das Erfurter Frauenzentrum Brennessel e. V. (https://frauenzentrum-brennessel.de/). Die Fachaufsicht liegt im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, konkret im Thüringer Gleichstellungsbüro.
Bei allerd!ngs sind zwei Fachkräfte mit psychologischem bzw. sprachwissenschaftlichem Hintergrund tätig: Lena Kunert und Delia Dancia, die zusammen auch den Fachtag organisiert haben. Ein wichtiges Anliegen ist es beiden Fachfrauen, klischeehafte Vereinfachungen zu überwinden und der Vielfalt der Lebenswelten in der Sexarbeit gerecht zu werden: „Es gibt Sexarbeitende, die schlechte Erfahrungen gemacht haben und akute Hilfe benötigen, allerdings auch selbstbestimmte Sexarbeitende, die sich einfach mal mit Kolleg:innen über z. B. Steuerfragen austauschen wollen“, betont die Website der Beratungsstelle. Will man die Lebenswelten von Sexarbeitenden angemessen beschreiben und adressieren, ist wohl tatsächlich bei fast allen Aussagen ein differenzierendes „allerdings“ notwendig.
So überzeugend wie die Namensherleitung der neuen Fachberatungsstelle allerd!ngs war auch das Programm ihres ersten Fachtages. Teilgenommen haben rund 30 Fachkräfte aus unterschiedlichen Thüringer Institutionen, so waren regionale Gesundheits-, Bürger- und Ordnungsämter, Stadtverwaltungen, der Landesfrauenrat Thüringen und der Landesverband für Frauen mit Behinderungen in Thüringen e. V. ebenso vertreten wie beispielsweise regionale Stellen von pro familia und der Deutschen Aidshilfe sowie von queeren Netzwerken. Diverse Teilnehmende brachten theoretische und praktische Erfahrungen mit der Umsetzung des ProstSchG mit, allerdings äußerten viele auch Informationsbedarf und geringe Kontakte zur Sexarbeits-Community. Daher war es genau richtig, dass auf dem Podium fast ausschließlich Sexarbeitende selbst zu Wort kamen.
Der erste Input stammte von Lydia (https://versuchung-lydia.de/), die als „Geliebte auf Zeit“ in Leipzig tätig ist und kein Problem damit hat, sich auch mit Gesicht als Sexarbeiterin zu erkennen zu geben und in den Medien aufzutreten. Ihr Input bestand aus drei Teilen: Zunächst beschrieb sie ihren eigenen Lebensweg, der beruflich von der Rechtsanwaltspraxis in den Escort-Service führte. Dann thematisierte sie die Probleme der Sexarbeitenden während der Corona-Pandemie und ging schließlich kritisch auf das ProstSchG ein. Aus der Erfahrungspraxis forderte sie am Ende die Abschaffung diskriminierender Regelungen wie der Registrierungs- und Beratungspflicht und warb für freiwillige und anonyme Beratung. Des Weiteren problematisierte Lydia unter anderem die Sperrbezirksverordnung ebenso wie die Definition von Prostitutionsstätten, gemäß der schon eine gemeinsam von zwei Kolleginnen gemietete Arbeitswohnung als konzessionspflichtige „Prostitutionsstätte“ zählt. Mit der Konzessionspflicht wird dabei eine Hürde errichtet, die das sichere gemeinsame Arbeiten verhindert und die Vereinzelung der Sexarbeitenden vorantreibt. Der Input verdeutlichte, wie lebensfremd und diskriminierend viele Spezialregelungen für die Sexarbeit sind.
Olivia ist ebenfalls nicht nur szeneerfahren, sondern auch politisch engagiert, etwa bei der Sex Worker Union Berlin (https://twitter.com/sxworkerunion) und bei The Black Sex Workers Collective (https://www.blacksexworkercollective.org/). Sie teilte die Anwesenden in fünf Kleingruppen auf und ermunterte sie, sich darüber Gedanken zu machen, was sie jeweils über Arbeit, Sexarbeit, das ProstSchG, von Armut betroffene Menschen und über Menschen mit Behinderungen in ihrem bisherigen Leben gelernt hatten. Die Aufgabe zielte darauf ab, die Teilnehmenden zu aktivieren und miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Unterhaltungen und daraus resultierenden beschrifteten Plakate zeigten am Ende auf, wie viele Klischees und Wissenslücken auch unter interessierten Fachkräften bestehen, wie die Beteiligten selbstkritisch feststellten.
Der Input von Ruby (https://mademoiselleruby.com/) setzte sich mit der Stigmatisierung von Sexarbeitenden und mit Sexarbeitsfeindlichkeit auseinander. Ebenso wie Lydia leistet auch Ruby neben der Sexarbeit mit großem Engagement Öffentlichkeits- und Medienarbeit. Einige Zeitungsartikel, Videos und Podcasts mit ihr sind auf ihrer Website dokumentiert. Ruby leitete in ihrem Vortrag her, dass und wie Sexarbeitende seit Jahrhunderten als „die Anderen“ ausgegrenzt wurden und werden. Ihre Vision ist es, den Tatbestand der Sexarbeitsfeindlichkeit in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufzunehmen. Sie weiß, wovon sie spricht: Ihr Outing als Sexarbeiterin führte vor einigen Jahren zum Verlust ihres „bürgerlichen“ Arbeitsplatzes. Der Versuch, rechtlich gegen diese Diskriminierung vorzugehen, scheiterte. Nicht nur sensibilisierte Ruby, die als Aktivistin unter dem kämpferischen Namen Ruby Rebelde auftritt, für offensichtliche und versteckte Sexarbeitsfeindlichkeit. Sie zeigte auch auf, welche verschiedenen Quellen und Hintergründe Sexarbeitsfeindlichkeit als eine Variante der Menschenfeindlichkeit hat: Misogyne Vorstellungen, traditionelle Familienwerte, religiöse Prägungen, rechte Anti-Gender- und Anti-Political-Correctness-Bewegungen, aber auch radikalfeministische linke Kreise prägen und verbreiten Sexarbeitsfeindlichkeit.
Der vierte und letzte Input wurde von Andrei Craciun gestaltet. Er ist bei SMART Berlin tätig (https://smart-berlin.org/), einem „Informations- und Beratungsprojekt für Sexarbeiter und Escorts in Berlin“. Wiederum um Differenzierung bemüht, zeichnete er ein zwiespältiges Bild der mann-männlichen Sexarbeit, die Einkommen, Lust und Rausch sowie Selbstverwirklichung verspricht, aber auch Belastungen, Scham und Schuld sowie Sucht mit sich bringen kann. Auf der Website von SMART ist eine Video-Serie über mann-männliche Sexarbeit zu finden, die im Sinne von Peer Education in die Materie einführt.
Insgesamt war die Stimmung auf dem Fachtag offen, positiv und unaufgeregt. Die Fachkräfte aus den Thüringer Verbänden und Behörden waren ausgesprochen interessiert daran, mehr über die Sichtweisen und Erfahrungen der Sexarbeitenden zu hören. Nur kurzfristig kam etwas Unruhe und Unmut auf, als die Vertreterin aus dem Thüringer Gleichstellungsbüro sich mit einer eingeladenen Rede zu Wort meldete. Die Kernbotschaft war positiv, nämlich die Fachberatungsstelle und die Sexarbeitenden bedarfsgerecht zu unterstützen. Aber der Duktus des Vortrags, in dem von staatlicher Stelle über „die Prostituierten“ gesprochen und dabei ausgerechnet dem sogenannten „Nordischen Modell“ der Kriminalisierung recht viel Raum gegeben wurde, wirkte in der partizipativ gestalteten Veranstaltung wie ein Fremdkörper. Gleichzeitig erinnerte diese Irritation daran, dass eben um Verständnis und Anerkennung weiter gerungen werden muss. So war es, wie Lena Kunert beim Rundgang durch die großzügige, sonnendurchflutete Beratungsstelle berichtete, zunächst sehr schwierig, in Erfurt geeignete Räumlichkeiten zu finden, da viele Vermieter*innen eine Beratungsstelle für Sexarbeitende nicht haben wollten. Doch nun hat sich die Nachbarschaft an die Beratungsstelle gewöhnt, deren Klientel vor dem Haus und im Treppenaufgang von der Kundschaft des angrenzenden Fahrradladens, des Klangschalenstudios und der Arztpraxis gar nicht zu unterscheiden ist.
Für die Sexualforschung ergibt sich die Anforderung, Fragen der Sexarbeit verstärkt empirisch zu untersuchen und dabei unter anderem Konzepte wie Sexarbeitsfeindlichkeit aufzugreifen. Auch eine kritische Begleitung der Gesetzgebung ist weiterhin relevant. In dem nach wie vor aktuellen Schwerpunktheft „Sexarbeit“ der Zeitschrift für Sexualforschung (Heft 4/2020; https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/issue/10.1055/s-010–49985) wurden bereits Kritikpunkte am ProstSchG verhandelt, die auch auf dem Fachtag immer wieder zur Sprache kamen. Die offizielle Evaluation des ProstSchG wurde nach europaweiter Ausschreibung im Sommer 2022 nun dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachen (KFN) übertragen. Die Ergebnisse werden 2025 vorliegen und von Forschung, Praxis und Politik mit Spannung erwartet. Neben der Produktion neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über Sexarbeit geht es auch darum, die vorliegenden Befunde in verdaulicher Weise in Praxis und Politik zu vermitteln. Während eine aktuelle Publikation aus dem „Deutschen Ärzteblatt International“ zur Prävalenz von Männern, die für Sex bezahlen, auf dem Fachtag mehrfach zitiert wurde (https://www.aerzteblatt.de/archiv/224165/Maenner-die-fuer-Sex-bezahlen-Praevalenz-und-sexuelle-Gesundheit), werden andere relevante Studien zuweilen übersehen. Daher verweist der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. (BesD; https://www.berufsverband-sexarbeit.de/) – auf dem Fachtag vertreten durch seine politische Sprecherin Johanna Weber – im eigenen Newsletter unter anderem auf aktuelle wissenschaftliche Publikationen. Nützlich sind darüber hinaus anschauliche Sammelbände, die Forschung und Praxis verbinden, wie etwa das soeben erschienene Handbuch „Sexarbeit. Realitäten, Identitäten und Empowerment“, das von der Deutschen Aidshilfe herausgeben wird und digital frei zur Verfügung steht (https://www.aidshilfe.de/shop/sexarbeit-realitaten-identitaten-empowerment). Einige Referent*innen des Fachtags sind als Autor*innen in dem Sammelband vertreten.
Wie die Quellenverweise in diesem Tagungsbericht zeigen, gibt es einiges an Material zum Nachlesen – sowohl für die Anwesenden als auch für Interessierte, die nicht live beim Fachtag dabei sein konnten. Der Fachberatungsstelle allerd!ngs ist weiterhin eine so kollegiale und konstruktive Arbeit im Thüringer Kontext zu wünschen.
Dieser Artikel wurde gemäß dem Erratum vom 24.10.2023 geändert. In diesem Beitrag war die Unterteilung des Titels in Überschrift und Untertitel nicht korrekt, dies wurde berichtigt.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
06. Dezember 2022
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