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DOI: 10.1055/a-1979-2413
Inklusiver Kinderschutz
Es gibt kaum Veröffentlichungen zum Kinderschutz in der außerklinischen Kinderkrankenpflege. Angesichts der Zahl der Kinder, die komplexe Krankheitsbilder aufweisen, schwer chronisch erkrankt oder behindert sind, muss dieser „weiße Fleck“ dringend geschlossen werden. Laut dem Pflegereport 2020 wurden Ende des Jahres 2019 27 820 Kinder < 5 Jahren, 57 364 Kinder zwischen 5 und 10 Jahren und 61 538 Kinder zwischen 10 und 15 Jahren durch Angehörige versorgt. Durch Pflegedienste wurden 1827 Kinder < 5 Jahren, 2981 Kinder zwischen 5 und 10 Jahren und 2957 Kinder zwischen 10 und 15 Jahren betreut. Die Zahl dieser Kinder dürfte in den nächsten Jahren weiter steigen, da durch den medizinisch-technischen Fortschritt viele pflegebedürftige Kinder eine höhere Lebenserwartung haben. Die Eltern kämpfen mit zahlreichen besonderen Belastungen. Sie sorgen sich um den weiteren Krankheitsverlauf, verlieren an Lebensfreude, haben Probleme mit der Erziehung des erkrankten Kindes und ggf. auch der gesunden Geschwisterkinder, haben weniger Sozialkontakte und reduzieren ihre Freizeitaktivitäten. Sie tragen die Hauptlast für die Betreuung, und insbesondere die Mütter schränken ihre Berufstätigkeit oft ein. Die psychischen Belastungen sind dementsprechend enorm. So weist z. B. eine Metaanalyse von 26 Untersuchungen eine signifikant erhöhte Rate an klinischen Depressionen und Angststörungen insbesondere bei den Müttern gegenüber Eltern mit gesunden Kindern nach (Cohen et al. 2020). Diese Kinder haben auch deshalb ein deutlich erhöhtes Risiko, dass ihnen Gewalt widerfährt. Eine Metastudie aus dem Jahr 2022 zeigt z. B., dass 31,7 % der untersuchten Kinder mit Behinderungen eine Form der Gewalt widerfahren ist. Sie sind zweimal so häufig von Vernachlässigung, körperlichen Misshandlungen, emotionaler Vernachlässigung und sexualisierter Gewalt betroffen (Fang et al. 2022). Ein spezifischer Aspekt bei diesen Kindern ist die medizinische Vernachlässigung. Von den im Jahr 2019 in den USA infolge von Vernachlässigung und Misshandlungen verstorbenen 1840 Kindern waren 7,8 % aufgrund von medizinischer Vernachlässigung verstorben (Children’s Bureau 2021). Die folgenden Punkte erhöhen das Risiko dieser Kinder, dass ihnen Gewalt widerfährt:
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Sie sind zum Teil auf vielfältige Hilfen angewiesen (Pflege, medizinische Behandlungen usw.). Sie haben folglich mit vielen Personen zu tun, was das Risiko, Opfer zu werden, erhöht.
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Für einen Teil der Kinder gehören „Grenzverletzungen“ (z. B. bei der Intimpflege) zum Alltag. Die Grenzen werden vielfach nicht kommuniziert. Für sie ist es deshalb oft schwer, ein Verhalten als Übergriff einzuschätzen.
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Da einige Therapieformen schmerzhaft sind, können einige Kinder nicht so gut zwischen angemessen und unangemessenen Schmerzen unterscheiden.
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Sie sind nicht über Gewalt gegen Kinder aufgeklärt worden. Die Einordnung der Widerfahrnisse ist dadurch erschwert.
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Sie leben häufiger in Einrichtungen. Dort ist das Risiko erhöht, Opfer von Gewalt zu werden.
Das Hilfesystem nimmt Gewalt gegen diese Kinder zu wenig wahr und ist nicht ausreichend auf sie vorbereitet: Es fehlt vielfach an Wissen über die besonderen Risiken und es existieren Mythen wie „Eltern würden ein Kind mit Behinderungen nicht misshandeln“. Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) verfügen nur eingeschränkt über Wissen und Erfahrung in Bezug auf die Lebensverhältnisse dieser Kinder und ihrer Familien. Fachkräfte der Behindertenhilfe/der häuslichen Kinderkrankenpflege haben wiederum zu wenig Wissen im Umgang mit dem Verdacht auf eine KGW. Für die Kinder sind unterschiedliche Hilfesysteme (Eingliederungshilfe – Kinder- und Jugendhilfe – Gesundheitshilfe) zuständig. Es kommt deshalb häufiger zu fehlenden Abstimmungen und Kommunikationsproblemen. Die Fälle sind zudem oft besonders komplex und erfordern Spezialwissen. Die Zusammenarbeit der Hilfesysteme bzw. der Professionellen ist deshalb eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Familien passgenaue Hilfen erhalten und die Interventionen bei einer KWG erfolgreich sein können. Für solche Fälle muss es Fachberatung und Supervision geben. Gerade für die häusliche Kinderkrankenpflege ist wegen der besonderen räumlichen Nähe zum Kind und dessen Familie sowie der meist bestehenden besonderen Beziehung zu den Familien die notwendige professionelle Distanz oft erschwert. Zwei Zitate aus der Studie von Julia Petersen (2020) sollen dies illustrieren: „Ja, wenn zum Beispiel die Versorgung nicht so läuft, wie man sich das vorstellt … Und das belastet mich dann schon.“ „Also, es fällt halt einfach auf, dass sie früh das Kind nicht so groß begrüßt. Schon ,Guten Morgen‘ oder so, aber nicht unbedingt drückt oder küsst oder so. Das ist halt so auffällig. Da haben wir im Moment mit zu kämpfen.“ Äußern häusliche Kinderkrankenpflegende gegenüber den Eltern z. B. die Befürchtung, diese würde ihr Kind vernachlässigen, verändert dies die Beziehung zur Familie grundlegend. Für die Professionellen aus den unterschiedlichen Hilfesystemen müssen gemeinsame Aus- und Fortbildungen angeboten werden. Die Kinder müssen gestärkt und unterstützt werden, Übergriffe zu melden und sich Hilfe zu suchen. Alle Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen/komplexen Erkrankungen leben, oder Dienste, die diese Kinder betreuen, müssen Schutzkonzepte entwickeln.
Redaktion BHK-Mitteilung: Corinne Ruser
Bundesverband Häusliche Kinderkrankenpflege e. V.
Hospitalstraße 12, 01097 Dresden
Tel: 0351/65289235
Fax: 0351/65289236
Verantwortlich für den Inhalt zeichnet der Vorstand des BHK e.V.,
i.A. Corinne Ruser
Publication History
Article published online:
06 February 2023
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