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DOI: 10.1055/a-2008-3833
42! – einige Anmerkungen zu den Ärztinnen und Naturwissenschaftlerinnen im „Biographischen Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten 50 Jahre“ von Isidor Fischer von 1932/33
Das 1933 erschienene „Biographische Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten 50 Jahre“ ([1], im weiteren Text „B. L.“) bildete den Abschluss eines umfangreichen biografischen Gesamtwerkes, das mit insgesamt 9 Bänden „bis heute das repräsentativste und umfangreichste biographische Nachschlagewerk der Medizingeschichte [ist], ohne dass es im internationalen Maßstab einen annähernd vergleichbaren Nachfolger gefunden hätte…“ [2]. Zunächst erschien 1884 das 5-bändige „Biographische Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker“ des Berliner Medizinhistorikers August Hirsch (1817–1894), gefolgt von einem Band „Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte des 19. Jahrhunderts“, der 1901 von Hirschs Schüler Julius Pagel (1851–1912) herausgegeben wurde. 1929 entschloss sich der Verlag Urban & Schwarzenberg zu einer überarbeiteten 2. Auflage des Hauptwerkes mit einem Ergänzungsband zu den Bänden 1 bis 5. Der Gynäkologe und Bibliothekar der Wiener Medizinischen Gesellschaft, Isidor Fischer (1886–1943), stellte sich Anfang der 1930er-Jahre dieser Aufgabe. Für einen Fortsetzungsband stellte er mithilfe internationaler Korrespondenten ein Kontingent von 7800 Personen zusammen. Zum Zeitpunkt des Erscheinens des B. L. lebten von diesen 7800 Personen noch über die Hälfte (56%). Als Folge des Zweiten Weltkrieges, des nachfolgenden Kalten Krieges und der geopolitischen „Ost-West“-Ausrichtung fand Isidor Fischers Lexikon über 70 Jahre keine Ergänzung. Es kamen 1962 lediglich eine 2. und 3. Auflage des B. L. als unveränderte Nachdrucke heraus.
Isidor Fischer selbst wurde als jüdischer Gelehrter 1938 aus Wien vertrieben und ist 1943 in Bristol verstorben.
Erst 1995 stellte sich die Frage nach dem Vermächtnis Isidor Fischers [3] und damit verbunden die Aufgabe, die Lebenswege der „1933 noch Lebenden“ (insgesamt 4400 Biografien) zu vervollständigen. In einem mehrjährigen, von der DFG geförderten Forschungsvorhaben konnte der Medizinhistoriker Peter Voswinckel den 1. Band seiner „Nachträge und Ergänzungen“ [von Aba bis Kom] vorlegen [4]; ein 2. Band [von Kon bis Zweig] wartet noch auf seine Vollendung und Publikationsförderung [5].
Im Ergebnis seiner umfangreichen Recherchen wurde von Voswinckel 1996 außerdem eine separate Studie zum „Frauenkontingent im ‚Biographischen Lexikon hervorragender Ärzte‘ von 1933“ publiziert, in der er sich dezidiert mit den Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen beschäftigte [2].
Mehr als ein Vierteljahrhundert später haben wir auf der Grundlage dieser Studie noch einmal alle weiblichen Kurzbiografien reevaluiert. Es handelt sich um insgesamt 42 Ärztinnen und Naturwissenschaftlerinnen aus 11 Nationen (0,54% aller im Lexikon aufgeführten Personen). Eingeschlossen wurden auch die Biografien von 2 Frauen, die von Isidor Fischer irrtümlicherweise als Männer aufgeführt wurden, nämlich die Amerikanerin Willey Glover Denis und die Finnin Laimi Leidenius [2]. Fünfzehn der Ärztinnen und Forscherinnen waren bei Drucklegung des B. L. 1932 bereits verstorben. Die 27 verbliebenen Ärztinnen, geboren zwischen 1859 und 1895, waren danach oft noch viele Jahre beruflich tätig. Bei 2 Frauen (Claudia Schumkowa-Trubina und Rosalie Schwager) war es trotz umfassender literatur- und internetbasierter Recherchen auch 2022 nicht möglich, den gesamten Lebensweg zu rekonstruieren und das Sterbedatum zu ermitteln. Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts in Russland geboren. Damit fielen der Anfang, der weitere Verlauf ihrer Berufstätigkeit und ihre Karrieren in die Jahre der sowjetischen Umwälzungen der 1920er-Jahre.
Zu den Aufnahmekriterien in das international angelegte B. L. finden sich im Vorwort Isidor Fischers einige Passagen. So war es sein Ziel, die „Arbeiter an dem Weiterausbau der wissenschaftlichen Heilkunde“ zu berücksichtigen, die „zum Teil unvergängliche Leistungen vollbracht haben“ [1]. Es sollten also „wissenschaftlich tätige Ärzte“ ins das B. L. aufgenommen werden, wobei „Aufnahme … in dem vorliegenden Werke – und da ist der von dem älteren übernommene Titel unvollkommen – nicht nur Ärzte, sondern auch Männer aus anderen Fächern [fanden], die auf die Entwicklung der theoretischen und praktischen Medizin befruchtend gewirkt haben, also auch Zoologen und Biologen, Physiker und Chemiker etc. Welcher Arzt hätte nicht einmal das Bedürfnis, wenn auch ganz knapp, z. B. über einen Röntgen informiert zu werden.“ [1]. Isidor Fischer fährt dann etwas überraschend fort: „Aufnahme fanden ferner jene Ärzte, die sich als Außenseiter auf ganz anderen Gebieten wie dem der Medizin Verdienste und Namen erworben haben, die, mit dem medizinischen Doktorhute geschmückt, hervorragende Staatsmänner, Dichter, Künstler wurden (…)“ [1]. Einige Zeilen später schränkt er ein, dass „Männer, deren Wirksamkeit wohl noch zum Teil in die Jahre 1880–1930 hinausreicht, die aber schon im ersten Teile des Biographischen Lexikons genannt sind, … nicht neuerlich aufgenommen [wurden]“ [1].
Unter den nachfolgend aufgeführten Frauen sind also auch solche, die nicht der Medizin zuzuordnen sind, aber großen Einfluss auf diese hatten, unter ihnen Marie Curie, die bekannteste Physikerin und Chemikerin ihrer Zeit sowie 2-fache Nobelpreisträgerin (1903 Physik, 1911 Chemie), Willey Glover Denis, eine Pionierin der amerikanischen Biochemie und Alwen Myfanwy Evans, eine Zoologin. In der [Tab. 1] wurden die 42 Ärztinnen und Naturwissenschaftlerinnen in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt ([Tab. 1]).
Unter welchen Bedingungen die in der [Tab. 1] aufgeführten Frauen zum Studium kamen, wo sie studierten bzw. promovierten, soll anhand von 5 Beispielen skizziert werden:
Franziska Tiburtius (Promotion 1875) studierte an der Universität Zürich. Sie war das 13. Kind eines Gutspächters. Nach dem frühen Tod ihres Vaters verließ sie 17-jährig ihr Elternhaus, um in einer adligen Familie als Erzieherin zu arbeiten. Ihr Bruder Karl Tiburtius, der als Arzt tätig war, und seine spätere Ehefrau Henriette Hirschfeld, die erste Zahnärztin Deutschlands, ermutigten sie dazu, Medizin zu studieren [6].
Anna Fischer-Dückelmann zog 1890 mit ihren 3 Kindern nach Zürich und promovierte dort 1897 mit 40 Jahren zur Dr. med. [7].
Die aus dem russischen Kowno im russischen Zarenreich (heute wieder Kaunas in Litauen) stammende Lydia Rabinowitsch begann ihre Studienzeit in Bern und wechselte später nach Zürich, wo sie sich in den Bereichen Botanik und Zoologie spezialisierte [8].
In Russland wurden schon ab 1872 in St. Petersburg spezielle Hochschulkurse für Frauen angeboten [9]. Zu den ersten Absolventinnen und Lehrkräften zählte Klawdia Petrowna Ulesko-Stroganowa, die Assistentin von Dmitrij Oscarovich von Ott (1855–1829) in St. Petersburg wurde, sich 1921 über die Histologie und Pathogenese der Myome habilitierte, 1928 zur Professorin ernannt wurde und noch heute als die führende Gynäkopathologin Russlands und der jungen Sowjetunion anzusehen ist [10].
Ludmila Bogolopewa arbeite ab 1933 an der 1906 gegründeten Medizinischen Fakultät der Moskauer Frauenhochschule [2].
Die Frauen im B. L. stammten vornehmlich aus der Mittelschicht oder dem gehobenen Bürgertum.
Der berufliche Werdegang der späteren Ärztinnen und Naturwissenschaftlerinnen begann häufig mit einer Tätigkeit als Lehrerin. Das war für viele Frauen des Mittelstandes die einzige Möglichkeit, überhaupt berufstätig zu sein oder finanziell unabhängig zu werden und sich die angestrebte universitäre Ausbildung leisten zu können. Franziska Tiburtius schreibt in ihren „Erinnerungen einer Achtzigjährigen“: „Es gab damals eigentlich nur einen Beruf, der für gebildete Frauen aus ‚guter Familie‘ wählbar war – den der Lehrerin (…)“ [11]. So waren mindestens 10 (23,8%) der im B. L. aufgeführten 42 Frauen vor dem Beginn ihres Studiums als Lehrerinnen tätig:
Marie Curie arbeite 1886–1890 als Hauslehrerin, um für ihre Schwester und sich selbst das Studium in Paris finanzieren zu können.
Finanzielle Gründe bewegten auch Gladys H. Dick und Anna Williams dazu, vor ihrem Medizinstudium eine Lehrtätigkeit auszuüben [2].
Florence Sabin unterrichtete 3 Jahre Mathematik, bevor sie 1897 an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA aufgenommen wurde.
Rhoda Erdmann und Adele Hartmann waren ebenfalls einige Jahre im Schuldienst, bevor sie 1906 in München studieren konnten.
Nachdem im August 1908 in Preußen, als einem der letzten deutschen Länder, die Immatrikulation von Frauen bewilligt wurde, wechselte Selma Meyer nach ihrem Examen als Musikpädagogin in die Medizin [12].
Sophia Jex-Blake arbeitete mehrere Jahre unter anderem in Mannheim, Göttingen und Manchester als Lehrerin, um die Bildungsmöglichkeiten für Frauen zu studieren. Sie hatte die Hoffnung, selbst einmal eine Schule zu gründen. Nach ihrer medizinischen Ausbildung in Edinburgh und der Schweiz, die sie unter erheblichen Widerständen absolvierte, gründete sie mit anderen Ärztinnen und Ärzten 1874 die London School of Medicine for Women [6].
Auch Elizabeth Blackwell arbeitete mehrere Jahre als Lehrerin. Sie beschäftigte sich im Selbststudium eingehend mit medizinischer Fachliteratur, bevor sie sich mit 25 Jahren an mehreren medizinischen Hochschulen bewarb. Vom Medical Collage in Geneva, New York, erhielt sie eine Zusage. 1849 wurde ihr als erster US-Amerikanerin überhaupt das medizinische Doktordiplom überreicht [6].
Ihre jüngere Schwester Emily Blackwell folgte ihrem Beispiel. 1857 schufen sie gemeinsam die New York Infirmary for Women and Children [6].
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde gemeinhin von Frauen gesellschaftlich erwartet, zu heiraten und Mutter zu werden. Für die ersten Ärztinnen waren die Rollen Ehefrau und Mutter auf der einen Seite und berufstätige Frau mit eigenen Karriereambitionen auf der anderen Seite oft nicht vereinbar; es hieß, sich zu entscheiden: medizinische Karriere oder Heirat [13] [14].
36 (85,7%) der 42 Frauen der im B. L. aufgeführten Ärztinnen und Naturwissenschaftlerinnen blieben nach jetzigem Kenntnisstand unverheiratet. Die 8 verheirateten Frauen lebten offenbar in Partnerschaften, die durch Gleichberechtigung und gegenseitige Unterstützung gekennzeichnet waren. Diese Ehepaare arbeiteten zusammen und erlebten ihre wissenschaftlichen Erfolge gemeinsam. Unter ihnen: Pierre und Marie Curie, Jules-Joseph und August Déjerine-Klumpke, George F. und Gladys H. Dick, David und Léonore Gourfein-Welt, Ernest und Mona Spiegel-Adolf, Walter und Lydia Rabinowitsch-Kempner [2].
Während der nationalsozialistischen Zeit (1933–1945) wurden jüdische Ärztinnen und Ärzte in Deutschland systematisch verfolgt und diskriminiert. Sie wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, ihre Praxen geschlossen und viele von ihnen wurden deportiert und ermordet. Nur 6 (14,3%) der 42 im B. L. aufgeführten Wissenschaftlerinnen waren in Deutschland oder Österreich tätig. Die Ausgrenzung und Verfolgung aus politischen Gründen oder wegen ihrer jüdischen Herkunft betraf letztlich 5 der 6 Frauen: Rhoda Erdmann, Lydia Rabinowitsch-Kempner, Selma Meyer, Mona Spiegel-Adolf und Maria Gräfin von Linden [2].
Das B. L. von 1933 hatte durch sein Erscheinungsdatum ein besonderes Charakteristikum: Es beschreibt eine (noch) geschlossene internationale wissenschaftliche Gemeinschaft, kurz bevor die einschneidenden politischen Veränderungen in Deutschland, kumulierend im Zweiten Weltkrieg, letztlich die ganze Welt veränderten und auch die medizinhistorische Berichterstattung für viele Jahrzehnte beeinflusste. „Nationale Empfindlichkeiten und ideologisch verengte Blickwinkel kollidieren im Osten nicht weniger als im Westen mit den Hypotheken der Vergangenheit: Blinde Flecken hüben wie drüben…“ [4].
Da in vielen Staaten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Preußen z. B. sogar erst Anfang des 20. Jahrhunderts, die Möglichkeiten einer universitären Bildung und einer medizinischen Ausbildung für Frauen geschaffen wurden [15], kann und muss man viele der 42 Ärztinnen und Naturwissenschaftlerinnen als Pionierinnen bezeichnen, die in ihrer Zeit Barrieren überwanden und den Weg für die nachfolgenden Generationen ebneten.
Publication History
Article published online:
09 March 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Fischer I. Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre: zugleich Fortsetzung des Biographischen Lexikons der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. 2 Bde. Berlin, Wien: Urban & Schwarzenberg; 1932
- 2 Voswinckel P. Frauenkontingent im Biografischen Lexikon hervorragender Ärzte von 1933. In: Meinel C, Renneberg M. Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Stuttgart: GNT-Verlag; 1996: 225-236
- 3 Voswinckel P. Das Vermächtnis Isidor Fischers. Chancen und Dilemma der aktuellen Medizin-Biographik. In: Bröer R. Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Pfaffenweiler: Centaurus; 1999: 121-137
- 4 Voswinckel P. Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre von Isidor Fischer † 1932/33. Bd. 3: Nachträge und Ergänzungen. Aba–Kom. Hildesheim: Olms; 2002
- 5 Priesner C. Voswinckel, Biographisches Lexikon. Nachträge und Ergänzungen [Buchbesprechung]. Spektrum der Wissenschaft 2003; 11: 96-97
- 6 Bickel MH. Die ersten Ärztinnen in Europa und Amerika und der frühe Feminismus (1850–1900). Bern: Peter Lang; 2017
- 7 Bleker J, Schleiermacher S. Ärztinnen aus dem Kaiserreich: Lebensläufe einer Generation. Weinheim: Dt. Studien-Verl.; 2000
- 8 Graffmann-Weschke K. „So wollen denn auch wir in diesem Sinne handeln“: die Bakteriologin Lydia Rabinowitsch-Kempner (1871–1935). Berlin, Leipzig: Hentrich & Hentrich; 2021
- 9 Adirim G. Das medizinische Frauenstudium in Russland [Dissertation]. Berlin: Freie Univ. Berlin; 1984
- 10 Tsvelev JV, Ailamazyan EK, Bezhenar VF. (eds.) Das Band der Zeit. Die Geburtshelfer und Gynäkologen Russlands der letzten 300 Jahre. St. Petersburg: Verlag N-L; 2010: 486-489
- 11 Tiburtius F. Erinnerungen einer Achtzigjährigen. Berlin: Schwetschke; 1929
- 12 Voswinckel P. Dr. Selma Meyer (1881–1958) – Erste Professorin für das Fach Kinderheilkunde in Deutschland. In: Wahrig-Schmidt B. Die Professionalisierung der Frau. Bildung, Ausbildung und Beruf von Frauen in historischer Perspektive. Lübeck: Dräger Druck; 1997: 113-126
- 13 Freidenreich HP. Female, Jewish, and Educated: The Lives of Central European University Women. Bloomington: Indiana University Press; 2002
- 14 Sieverding M. Psychologische Karrierehindernisse im Berufsweg von Frauen. Berlin; Heidelberg: Springer;: 2006
- 15 Brinkschulte E. Historische Einführung: Medizinstudium und ärztliche Praxis von Frauen in den letzten zwei Jahrhunderten. Karriereplanung für Ärztinnen. Berlin, Heidelberg: Springer; 2006: 9-35