Nervenheilkunde 2023; 42(06): 389
DOI: 10.1055/a-2022-0345
Buchbesprechungen

Religiöser Glaube und Spiritualität

Wandel und Vielfalt aus psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht

Norbert Mönter. Religiöser Glaube und Spiritualität. Wandel und Vielfalt aus psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2022. 177 Seiten, 44,00 Euro, ISBN 9783170391826

Mit seinem Buch ist es Mönter, welcher als langjähriger Psychiater und Neurologe sowie Psychoanalytiker die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in Deutschland verfolgt und über 30 Jahre begleitet hat, gelungen, Religion und Psychiatrie bzw. Religion in der Psychiatrie im psychiatrischen Kontext gebündelt und aus der philosophischen Perspektive stringent zu thematisieren. Mönter ist seit 2003 mit der Gründung des Vereins für Psychiatrie und seelische Gesundheit engagiert. Er möchte mit diesem Buch einen aktiven Beitrag dazu leisten, dass individueller Glaube – welchen er als die „Fähigkeit, situationsangemessen Vertrauen, Zuwendung oder eben Zweifel, Vorsicht und Zurückhaltung entwickeln zu können“ definiert (Zitat Mönter: 127) – im therapeutischen Setting mehr Berücksichtigung finden sollte. Mönter diskutiert in seinem Werk philosophische Grundpositionen, die er aus den Ausführungen von Kant, Habermas und umfänglicher von Jaspers herleitet, welcher sich schon vor über 70 Jahren kritisch gegenüber dem Primat der Neurowissenschaft aber auch der Psychoanalyse oder anderen wahrheitsverkündenden Lehren als „Totalanschauung“ (Mönter: 131) positionierte.

Insbesondere das Kapitel „Glauben als Basis von Vertrauen“ und der Diskurs psychoanalytischer Aspekte kann auch für Nichtanalytiker mit Gewinn gelesen werden – die Freudsche Konstruktion des Glaubens als infantile Wunschfixierung erfährt eine notwendige Erweiterung – nicht nur, aber auch für schwerpunktmäßig verhaltenstherapeutisch Tätige. Für Mönter als gläubiger Mensch ist das Nichtbeachten des Glaubenshintergrundes und damit der Reflektion des Patienten zum (eigenen) Sein ein diagnostischer und therapeutischer Fehler, weil hiermit verbundene Risiken, aber auch therapeutisch nutzbare Ressourcen übersehen werden. Mönter setzt die Unschärfe des Glaubens nicht in Kontrast mit dem Wissen, sondern beschreibt auch bei allem naturwissenschaftlichen Wissen – dessen Unschärfe und Relativität – am Beispiel der Quantenphysik.

Mönter weist auf die Notwendigkeit der Beachtung der Freiheit des Patienten und der daraus erwachsenden Verantwortung des Therapeuten für diesen im Kontext der Behandlung hin. Hier sei allerdings angemerkt, dass die sogenannte „Freiheit“ bei manchen Patienten – nicht nur krankheitsbedingt – wie beispielsweise bei der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung – eingeschränkter ist, als wir westlich individualistisch sozialisierten Therapeuten es uns teilweise vorstellen können. Die positive Bedeutung von Spiritualität für das Miteinander von Patient und Therapeut sind zentraler Gegenstand des Buches und wer sich für den diesbezüglich philosophischen – und dezidiert nicht theologischen – Hintergrund interessiert, dem sei das Buch wärmstes empfohlen.

Peter Kaiser, Bern



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
31. Mai 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York