Fortschr Neurol Psychiatr 2023; 91(04): 126-127
DOI: 10.1055/a-2022-4203
Editorial

Seltene Erkrankungen

Rare diseases
Heinz Reichmann

Neben Volkskrankheiten, wie Schmerzen, Kopfschmerzen und Schwindel, behandeln Neurologinnen und Neurologen neben den Pädiatern am häufigsten seltene Erkrankungen. Die Mehrzahl dieser seltenen Erkrankungen basiert auf Gendefekten, so dass Neurologinnen und Neurologen ein gutes Basiswissen zur Genetik aufweisen müssen. Aufgrund der Schwere dieser genetisch bedingten Erkrankungen, was sich z. B. bei der Dychenneʼ schen Muskeldystrophie, bei der Chorea Huntington oder bei Motoneuronerkrankungen zeigt, ist es unabdingbar, sich die Frage zu stellen, ob Gendefekte mit unseren modernen Methoden korrigiert oder zumindest so alteriert werden können, dass die Schwere des Krankheitsbildes reduziert werden kann. Es ist somit nur naheliegend, dass gerade für die Neurologie Gentherapien von hoher Wichtigkeit sind und davon auszugehen ist, dass auch weiterhin „unsere Erkrankungen“ als Modelle für Gentherapie besonders tauglich sind. Um eine gemeinsame Basis zu finden hat Th. Gasser aus Tübingen eine Einführung in die Gentherapie verfasst, die neben den Grundlagen der therapeutischen Modifikation der Gene auf DNA- und RNA-Ebene auch Ex-vivo- und In-vivo-Methoden eindrucksvoll beschreibt. Er geht auf die CRISPR-Cas9-Schere und die sequenzspezifische Beeinflussung der Genexpression auf RNA-Ebene ein, so dass für die folgenden Arbeiten eine hervorragende Grundlage gesetzt wird. Im Folgenden werden Gentherapie bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems, aber auch des peripheren Nervensystems und der Muskulatur ausführlich gewürdigt und die Leserschaft auf den neusten Stand gebracht. Bei der Huntington-Erkrankung hatten wir noch vor wenigen Jahren die Gewissheit, dass in London der therapeutische Durchbruch kurz bevorsteht. Es handelte sich dabei um die Entwicklung von antisense Oligonukleotiden, aber auch um den Einsatz von mikro-RNAʼs und Modulatoren der RNA-Prozessierung oder Beeinflussung auf DNA-Ebene von Zinkfingerproteinen. Derzeit ist der Optimismus etwas gewichen, weil es sich doch abzeichnet, dass es nicht einfach ist, mit gentherapeutischen Maßnahmen die Bluthirnschranke zu durchbrechen und was auf dem „Reißbrett“ so einfach erscheint, dann in natura umzusetzen. Ein weiteres Beispiel auf Gendefekt-bedingte ZNS-Erkrankungen sind das große Feld der Ataxien, wo neben sporadisch degenerativ erworbenen Formen auch genetische Formen zu einer Degeneration des Kleinhirnes führen. Die Ziele der Gentherapie bei genetisch bedingten Ataxien sind laut Th. Klockgether, Bonn, die Inaktivierung schädlicher Gene durch Gen-Silencing oder der Ersatz oder die Korrektur eines nicht funktionsfähigen Gens. Des Weiteren bespricht er in seiner Arbeit die Möglichkeit, neue oder modifizierte Gene zu transferieren. Aktive Entwicklungen und Phase I Studien gibt es bereits für die Friedreichʼsche Ataxie, bestimmte spinozerebelläre Ataxien und die Multisystematrophie. Auch im Feld der Epileptologie gibt es vielversprechende erste Ansätze zur Gentherapie bei pharmakoresistenten Epilepsien und beim Dravet Syndrom, wie dies Müller und Lerche aus Tübingen eindrücklich beschreiben. Besonders schwer verlaufende Erkrankungen sind spinale Muskelatrophie und amyotrophe Lateralsklerose, die ebenfalls auf genetischen Störungen beruhen. Gerade hier gibt es ermutigende Entwicklungen für gezielte Gentherapiestrategien, die als front runner für die Gentherapie im Fach Neurologie gelten können. Insbesondere weist R. Günther, aus Dresden, auf die bereits seit wenigen Jahren zur Verfügung stehenden Gentherapien für die spinale Muskelatrophie hin, die auch in Deutschland bereits zugelassen sind. Auch für die amyotrophe Lateralsklerose gibt es erste ermutigende Ergebnisse in der Gentherapieforschung, was in dem Artikel eindrücklich belegt wird. Auch im peripheren Nervensystem und in der Muskulatur gibt es aufregende Entwicklungen bezüglich der Gentherapie. Insbesondere die Dystrophinopathien, wie die Duchennʼsche Muskeldystrophie, sind seit Jahren Ziel von antisense Nukleotid-Therapie. B. Schoser aus München beschreibt darüber hinaus eindrücklich den Stand der Entwicklung für molekulare Therapien bei hereditären Myopathien und berichtet über ausgewählte aktuelle Phase I-III Studien zur Dystrophinopathie Becker-Kiener, der fazio-scapulo-humeralen Muskeldystrophie, Calpainopathien und Dysferlinopathien. Als bereits etabliertes Beispiel für die Therapie von hereditären metabolischen Myopathien geht er im Detail auf den Morbus Pompe ein.

Zusammenfassend soll dieses Sonderheft der Fortschritte dem Leser dazu dienen, Begeisterung für die neuen Ansätze der Gentherapie im Fach Neurologie zu wecken, aber auch die nötige Zurückhaltung zu vermitteln, die es benötigt, bis die oben genannten Therapieformen letzten Endes bei Patienten in all diesen Krankheitsbildern ankommen werden.

Ich bin den herausragenden Verfassern dieser Übersichtsarbeiten besonders dankbar, dass sie sich die Mühe gemacht haben, mit klarer und gut verständlicher Sprache und hervorragender Illustration dieses aufregende Feld der Neurologie für unsere Leserschaft aufzuarbeiten und einprägsam zu verfassen.

Heinz Reichmann, Dresden



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Article published online:
13 April 2023

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