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DOI: 10.1055/a-2034-2562
Kommentar zu „Antidepressiva als Schmerzmittel selten geeignet“
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Zur Therapie einiger chronischer Schmerzsyndrome sind nur Antidepressiva geeignet, die sowohl serotonerg als auch noradrenerg wirken. Die Autoren fanden eine Evidenz von mäßiger Qualität, dass SNRIs bei chronischem Rückenschmerz, chronischem postoperativen Schmerz, FMS und neuropathischen Schmerzen wirksam waren. Sie fanden eine Evidenz geringer Qualität, dass TCAs beim RDS, bei neuropathischen Schmerzen und chronischem Spannungskopfschmerz wirksam und SSRIs bei Rückenschmerzen, FMS, funktioneller Dyspepsie und nicht kardialem Brustschmerz nicht wirksam waren.
Die Autoren weisen zu Recht auf einige methodische Einschränkungen der analysierten Übersichtsarbeiten wie den Industriebias der Studien mit SNRIs und die niedrige methodische Qualität der vor > 20 Jahren durchgeführten Studien mit TCAs hin. Daher werden die positiven Effekte dieser Antidepressiva-Klassen möglicherweise überschätzt. Diese Einschränkungen können durch mit öffentlichen Mitteln geförderte Studien mit Medikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist, überwunden werden. In der britischen OPTION-DM-Studie wurden 140 erwachsene Patienten mit schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie in drei 16-wöchigen Behandlungspfaden im randomisierten Cross-over-Design in unterschiedlicher Reihenfolge mit Amitriptylin, Duloxetin oder Pregabalin behandelt [1].
Eine bedeutsame methodische Schwäche der Publikation ist die fehlende Darstellung der klinischen Relevanz der Ergebnisse zu Wirksamkeit und Abbruchraten wegen Nebenwirkungen – obwohl einige der Übersichtsarbeiten wie die Cochrane-Reviews diese Daten berichtet haben. Die Autoren gründen ihre Einschätzung der Wirksamkeit auf das Vorliegen eines statistisch signifikanten Unterschiedes (ohne das angenommene Signifikanzniveau zu nennen). Ihre Argumente für dieses Vorgehen – Grenzwerte für klinische Relevanz sind willkürlich, stimmen eventuell nicht mit den Patientenerwartungen überein und gelten nicht für alle chronischen Schmerzsyndrome – sind nicht überzeugend. Das in den Cochrane-Reviews analysierte Effektmaß einer Schmerzreduktion von 50% und mehr stimmt mit den Patientenerwartungen überein [2]. Responderanalysen werden in Zulassungsstudien für Analgetika von den Arzneimittelzulassungsbehörden und von Expertengruppen für systematische Übersichtsarbeiten von kontrollierten Studien bei chronischen Schmerzsyndromen gefordert [2]. Die Gegenüberstellung der NNTH (Number needed to treat for an additional benefit) für eine Schmerzreduktion von 30% und mehr mit der NNTH (Number needed to treat for an additional harm) für Abbruch wegen Nebenwirkungen erlaubt ein Abwägen des potenziellen Nutzens gegenüber einem potenziellen Schaden.
Die Publikation geht nicht auf praktische Aspekte der Schmerztherapie mit Antidepressiva ein:
Die Verschreibung eines „Antidepressivums“ zur Schmerzbehandlung stößt bei Patienten häufig auf den Einwand: „Ich habe Schmerzen und bin nicht depressiv“. Für das Gespräch mit dem Patienten ist es hilfreicher und auch aus wissenschaftlicher Sicht korrekter, den Begriff „Schmerzmodulator“ zu verwenden. Serotonin und Noradrenalin sind zusammen mit endogenen Opioiden, Dopamin und Gamma-Aminobuttersäure wichtige Neurotransmitter der Schmerzmatrix. Serotonin- und noradrenalinassoziierte Dysfunktionen der zentralen Schmerzhemmung werden als ein pathophysiologischer Mechanismus bei neuropathischen Schmerzen und beim Fibromyalgiesyndrom angenommen [3] [4]. Serotoninassoziierte Dysfunktionen im enterischen Nervensystem mit Auswirkungen auf gastrointestinale Motilität, Sekretion und Sensitivität werden als ein pathophysiologischer Mechanismus des Reizdarmsyndroms (RDS) angesehen [5]. Es gibt also eine pathophysiologische Rationale für den Einsatz von Antidepressiva mit Wirkungen auf Serotonin und Noradrenalin bei neuropathischen Schmerzen und funktionellen Störungen wie dem Fibromyalgiesyndrom und dem Reizdarmsyndrom. Diese Rationale sollte dem Patienten verständlich erklärt werden. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die Wirkung von SNRI und TCA auf neuropathische Schmerzen und Schmerzen beim FMS weitgehend unabhängig von der antidepressiven Wirkung ist und dass mögliche analgetische Effekte von Antidepressiva nach einigen Tagen und antidepressive Effekte meist erst nach 2–4 Wochen festgestellt werden. Die zur Schmerztherapie verwendete Dosis von TCAs ist um 1/3 bis 1/8 niedriger als die Dosis, welche zur Therapie von Depressionen verwendet wird.
Es fehlt der Hinweis, dass es keine RCTs mit neueren Antidepressiva-Klassen, z.B. melatonerge Antidepressiva bei chronischen Schmerzen gibt. Die Publikation äußert sich auch nicht dazu, ob alle Antidepressiva einer Klasse gleich wirksam sind. Es sollten die Antidepressiva für eine Schmerztherapie ausgewählt werden, die in den analysierten randomisierten kontrollierten Studien eingesetzt wurden. Am häufigsten wurde bei den SNRIs Duloxetin und bei den TCAs Amitriptylin untersucht.
Auch fehlt der Hinweis auf den Zulassungsstatus. Von den TCAs sind in Deutschland nur Amitriptylin, Imipramin und Clomipramin zur Schmerztherapie zugelassen. Von den SNRIs ist nur Duloxetin für die diabetische Polyneuropathie zugelassen.
Publication History
Article published online:
21 July 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Desfaye S. et al. Comparison of amitriptyline supplemented with pregabalin, pregabalin supplemented with amitriptyline, and duloxetine supplemented with pregabalin for the treatment of diabetic peripheral neuropathic pain (OPTION-DM): a multicentre, double-blind, randomised crossover trial. Lancet 2022; 400: 680-690
- 2 Moore RA. et al. “Evidence” in chronic pain – establishing best practice in the reporting of systematic reviews. Pain 2010; 150: 386-389
- 3 Obata H. Analgesic Mechanisms of Antidepressants for Neuropathic Pain. Int J Mol Sci 2017; 18: 2483
- 4 Cagnie B. et al. Central sensitization in fibromyalgia? A systematic review on structural and functional brain MRI. Semin Arthritis Rheum 2014; 44: 68-75
- 5 Mayer EA. et al. The neurobiology of irritable bowel syndrome. Mol Psychiatry 2023;