Z Sex Forsch 2023; 36(02): 118-119
DOI: 10.1055/a-2055-3235
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The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970 s West Germany

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Craig Griffiths. The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970 s West Germany. Oxford, UK: Oxford University Press 2021 (Reihe: Studies in German History). 256 Seiten, GBP 72,00

Mit dieser Publikation hat Craig Griffiths eine differenzierte und lesenswerte Studie vorgelegt. Sie basiert auf umfangreichen Recherchen in Archiven in Deutschland (z. B. das Archiv des Schwulen Museums in Berlin und des WDR in Köln) und in historischen Archiven, u. a. in New York, Washington und in Manchester. Griffiths hatte intensiven Austausch mit westdeutschen und West-Berliner Aktivist*innen, die im Rahmen ihres Engagements auch zu selbst ermächtigten Historiker*innen der Schwulenbewegung wurden, von Griffiths anerkennend „activist-turned-historian“ (S. 7) genannt, allen voran Michael Holy, Jens Dobler und Manfred Herzer. Er wertete nicht nur Artikel der kommerziellen Schwulenpresse (wie „du + ich“ und „him“) aus, sondern auch der schwulenbewegten Presse (wie „Emanzipation“ und „Schwuchtel“), zudem in den 1970er- und 1980er Jahren publizierte Artikel in Zeitschriften, die den Entstehungsprozess der Neuen Linken begleiteten (wie „konkret“, „Kursbuch“ und „Pflasterstrand“). Nicht zuletzt durchforstete er eine Unmenge von Flugblättern regionaler Schwulengruppen. Darüber hinaus führte der Autor neun „oral history interviews“ (S. 13) mit früheren schwulen Aktivisten und einer lesbischen Aktivistin durch. Kurzum: Griffiths hat einen großen Rechercheaufwand betrieben, um seine Thesen mit zeitgeschichtlichem Material zu untermauern. Die Darstellung seiner Ergebnisse leidet glücklicherweise nicht unter diesem Aufwand. Die Detailfülle führte nicht zur Stoffhuberei. Die Studie ist in einem erzählenden Stil verfasst, der weder auf Ironie noch auf Umgangssprachliches verzichtet, vor allem beim Rückgriff auf viele deutsche idiomatische Begriffe (z. B. S. 28). Griffiths macht sich einen Spaß daraus, viele pompöse bzw. floskelhafte Wortungetüme aufzuspießen, die im radikalen Revolutionssprech der Schwulenbewegung, hier ganz der 68er-Bewegung verbunden, gang und gäbe waren und die er mit bemerkenswerter Geschicklichkeit ins Englische übersetzt.

Schon die Darstellung beginnt mit einem aufschlussreichen Kontrast. Griffiths verweist auf die gnadenlose polizeiliche und gerichtliche Verfolgung der Homosexuellen in den 1950er- und 1960er-Jahren und erinnert daran, dass zwischen 1953 und 1965 mehr Homosexuelle strafrechtlich verfolgt wurden als in den Jahren der Naziherrschaft. Kontrastierend zitiert er den begeisterten englischen Herausgeber des “Spartacus International Gay Guide” von 1974: „In the opinion of the Editor, Germany is now the best place in Europe for a gay person to live. […] The Germans are quick to exploit and advance their homosexual freedom, and especially in the bigger cities, almost anything goes. Old inhibitions are dying quickly, and gay life is swinging“ (S. 1).

Griffiths zeichnet kein so optimistisches Bild der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik. Einerseits räumt er ein, dass die Reform des § 175, die einvernehmliche homosexuelle Kontakte zwischen Männern über 21 Jahren (dem damaligen Volljährigkeitsalter) entkriminalisierte, homosexuellen Männern eine „gewaltige Erleichterung“ (S. 57, übersetzt von MB) verschaffte. Die Angst vor Erpressung, Verhaftung und Diskriminierung sei jedoch bei sehr vielen Männern geblieben, vor allem bei denen, die die Jahrzehnte der Repression und Tausende von Verhaftungen und Verurteilungen zwischen 1933 und 1969 erleben mussten. Die Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlichen Kontakten hätte zudem keineswegs ungeteilte Zustimmung in der Bevölkerung gefunden. Griffiths zitiert eine repräsentative Allensbach-Umfrage von Dezember 1968, in der sich lediglich 38 Prozent der Befragten für und 45 Prozent gegen die Entkriminalisierung aussprachen (S. 36). Folgerichtig fragt er auch, vor welchem politischen und soziokulturellen Hintergrund die Reform des § 175 stattfand. Der Autor arbeitet detailliert heraus, dass gay liberation nicht aus dem Nichts entstand. Um die sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre generell zu verstehen, müssten übergreifende soziale Prozesse berücksichtigt werden. Griffiths betont dabei vor allem die seit den 1960er-Jahren einsetzende Bildungsexpansion, die ökonomische Prosperität, eine Liberalisierung der Sexualmoral (die voreheliche Sexualkontakte nicht mehr zwingend verurteilte) und die weniger sexualfeindliche Berichterstattung der liberalen Tages- und Wochenpresse und einiger Fernsehanstalten (insbesondere des WDR). Schließlich hätte auch der Umstand, dass das Justizministerium in entscheidender Zeit in sozialdemokratischer Hand war, eine Rolle gespielt. Sein Fazit: „Make no mistake, these forms of homosexual organizing were the consequence not the cause of law reform. The homophile movement of the 1940 s and 1950 s was essentially moribund by the early 1960 s“ (S. 31).

Als weitere unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung der Schwulenbewegung sieht der Autor die Student*innenbewegung und die von ihr ausgehenden normativen und kulturellen Impulse an. Die 68er-Bewegung und die in diesem Kontext entstehende alternative Linke lieferten Vorbilder, soziale Räume und Aktionsformen für Schwulengruppen. Das Konzept der „Gegenöffentlichkeit“ war sowohl bedeutsam für die Student*innen- wie auch für die Schwulenbewegung, das Medium der Flugblätter und Faltblätter, die in alternativen sozialen Räumen wie Bars, Cafés, Buchläden und Kinos verteilt wurden, wurden von den Schwulengruppen übernommen. Wie auch die „Nachfolgeorganisationen“ der „68er“ sei die Schwulenbewegung sehr bald geprägt gewesen durch Auseinandersetzungen zwischen Schwulengruppen, die eine Emanzipation der Homosexuellen nur im Rahmen einer Überwindung des Kapitalismus denken wollten, und reformerisch orientierten Gruppen.

Griffiths befasst sich ausführlich mit dem „Tuntenstreit“, der in den 1970ern zwischen „Feministen“ und „Sozialisten“ ausgetragen wurde. Die Feministen wollten mit einer subjektiven Befreiung jenseits der verknöcherten Geschlechterklischees sofort beginnen, die Sozialisten erklärten die gesellschaftliche und staatliche Unterdrückung der Homosexuellen zu einem „Nebenwiderspruch“, der erst nach einer Überwindung des „Hauptwiderspruchs“ zwischen Kapital und Arbeit in einer befreiten sozialistischen Gesellschaft gelöst werden könne. Das Hantieren mit dem „Hauptwiderspruch“ sieht Griffiths nicht nur als willkommenen Vorwand, die Prüderie der schwulen „Sozialisten“ zu bemänteln, er verortet diese Haltung in weiten Teilen der männlich dominierten neuen Linken, die zwischen verlegener Hilflosigkeit und kaum verhüllter Ablehnung schwuler Männer schwankte und sich damit wenig unterschied von der traditionellen Linken.

Breiten Raum widmet Griffiths insgesamt den Kontroversen zwischen unterschiedlichen Fraktionen der Schwulenbewegung, die er subsumiert unter diversen reformistischen Positionen und solchen, die auf einer grundsätzlichen Überwindung des Gesellschaftssystems beharrten, klassisch formuliert in Martin Danneckers Losung auf der ersten Schwulen- und Lesbendemonstration in Münster am 29. April 1972: „Brüder & Schwestern, warm oder nicht, Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht“ (S. 83). Es ist eine Stärke der Studie, dass sie ausführlich auf wichtige Protagonisten der Schwulenbewegung in den 1970er-Jahren eingeht und zu Recht den Film von Rosa von Praunheim „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ hervorhebt: „ […] the early history of West German gay liberation cannot be written without reference to the film“ (S. 71). Nicht nur weil sich so viele Schwulengruppen nach der Premiere des Films (auf der Berlinale 1971) gegründet hätten, dieser also die angestrebte praktische Relevanz bekam, sondern auch weil er im ganzen folgenden Jahrzehnt der Diskussion über Homosexualität entscheidende Impulse gegeben habe. Unterschiede zu liberalen Sexualwissenschaftler*innen werden benannt, die anders als der auf Differenz pochende Dannecker die „Normalität“ von Homosexualität betonten. So Gunter Schmidt, der zweimal vom „Spiegel“ (1969 und 1973) mit der Aussage zitiert wird, dass Homosexualität lediglich ein Merkmal von Personen sei, die ansonsten „stinknormal“ seien (S. 65). Griffiths beleuchtet ebenso die Debatten über Herbert Marcuse, dessen Thesen zur „repressiven Entsublimierung“ in der neuen Linken und in bestimmten Schwulengruppen diskutiert wurden. Er versäumt allerdings nicht, darauf hinzuweisen, dass diese Debatten über die „Scheintoleranz“ bürgerlicher Gesellschaften, die Sexualität auf das Niveau von Warenkonsum reduziere, lediglich in einer sich als Avantgarde fühlenden Minderheit unter schwulen Männern stattfanden. Als Avantgarde fühlte sich diese Minderheit zu Folgendem verpflichtet: „for lifting their fellow queers from the depths of their false consciousness“ (S. 105).

Ähnlich kritisch analysiert Griffiths die Kampagne von Teilen der Schwulenbewegung, die dafür eintrat, das für homosexuelle Männer in Konzentrationslagern verwandte Kennzeichen, den Rosa Winkel, als Symbol für ihren Emanzipationskampf zu übernehmen. Dabei verweist er auf die Argumentation von Manfred Herzer, der Mitte der 1980er-Jahre hervorhob, dass Männer mit dem Rosa Winkel lediglich eine winzige Minderheit unter den Homosexuellen in Nazideutschland darstellten, während eine große Mehrheit passive Folgebereitschaft leistete. Griffiths legt nahe, dass die Emanzipationsperspektive gegen einen für die 1970er-Jahre fragwürdigen Diskurs der Viktimisierung ausgetauscht worden sei. Er zitiert Michael Holy, der retrospektiv die Verwendung des Rosa Winkel als ausgeliehenes Symbol der Verfolgung bezeichnet, um die Kontinuität der Repression zu beglaubigen (S. 147).

Der Autor betont mehrfach, dass die Zahl der in den Schwulengruppen aktiven Personen im Vergleich zu der (wie auch immer) geschätzten Gesamtzahl der homosexuellen Männer in der Bundesrepublik sehr gering war und dass sie überwiegend aus der Mittelschicht kamen (S. 84 f.). Warum die Schwulenbewegung in den 1970er-Jahren dennoch eine vergleichsweise große Aufmerksamkeit erzielte, führt Griffiths u. a. auf die Begünstigung durch den „Zeitgeist of the period“ (S. 148) zurück, in der das Eintreten für die Menschenrechte Bedeutung gewann. Ebenso hätten die liberalen Medien der Bundesrepublik, wie „Die Zeit“ und „Der Spiegel“, der WDR und der NDR, eine Rolle gespielt. Allerdings verweist er auf Grenzen der Toleranz. Diese Medien wären bereit gewesen, Anliegen der schwulen Aktivisten aufzugreifen, aber nur in bestimmtem Umfang. Er folgt damit seiner Doktormutter Christina von Hodenberg, die vor allem den Fernsehanstalten die Rolle des Katalysators und Beschleunigers zuschreibt bei gleichzeitiger „Weichspülung“ (sanitizer) allzu radikaler Momente der „Kulturrevolution“ der 68er-Bewegung (S. 69).

Ist Griffiths mit alldem eine gelungene Darstellung der Geschichte der westdeutschen Schwulenbewegung in den 1970er-Jahren gelungen? Ja, mit gewissen Einschränkungen. Griffiths hat sich besonders auf die „emotional politics of gay liberation“ (S. 165) konzentriert. Dies drückt sich schon in seinem Titel „The Ambivalence of Gay Liberation“ aus. Die analysierten „Achsen der Ambivalenz“ (S. 19, übersetzt von MB) sind für Griffiths Stolz und Scham, Normalität und Differenz, Hoffnung und Furcht. Damit verwendet er (abgesehen von Normalität und Differenz) eher individualpsychologische Begriffe für die Analyse von Gruppen. Dies führt ins Ungefähre bzw. zu Ungenauigkeiten. Wenn Griffiths von Ambivalenz spricht, meint er oft kontroverse Positionen, um die sich verschiedene Gruppen streiten, es sind konturierte Meinungsunterschiede in der Schwulenbewegung, z. T. sogar Polarisierungen, und keine Ambivalenzen. Reformorientierte Positionen und systemtranszendierende Postulate waren gegensätzliche Konzepte, die von verschiedenen Gruppen vertreten wurden und nicht von einer „ambivalenten“ Schwulenbewegung. Die Schwulenbewegung in den 1970er-Jahren war keine einheitliche Organisation, der man Mangel an Kohärenz oder eine gewisse Ambivalenz hätte vorhalten können. An zwei in dieser Rezension zitierten Beispielen kann dies verdeutlicht werden. Der Streit zwischen „Feministen“ und „Sozialisten“ markierte bedeutsame Differenzen und keine Ambivalenzen, und Martin Dannecker war als Protagonist der „Differenz“ zwischen homo- und heterosexuellen Männern in dieser Hinsicht alles andere als ambivalent. Trotz dieser Einschränkungen: eine sehr lesenswerte Studie.

Michael Bochow (Berlin)



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Article published online:
05 June 2023

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