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DOI: 10.1055/a-2055-3307
Vom Antun und Erleiden. Eine Soziologie der Gruppenvergewaltigung



Die neuere Gewaltsoziologie widmet sich nicht den Ursachen, den Motiven oder der Verhinderung von Gewalt, sondern der Gewaltpraxis. Zugleich konzeptualisiert sie Gewalt nicht als ein exzeptionelles Phänomen, sondern als jederzeit verfügbare Handlungsoption, die soziologisch auf die gleiche Weise wie jede andere Art (körperlicher) Interaktion zu untersuchen ist. „Subjekte treten“, so Wolters’ These, „durch sexuelle Gewalt mit anderen – Mittätern, Opfern und Dritten – in Wechselverhältnisse, in denen Bedeutungen sozial hergestellt werden und Sinn produziert wird“ (S. 282).
Will man Gewalt als körperliche Praxis untersuchen, stellt sich die Frage, auf welches Datenmaterial sich die Forschung stützen kann. Obwohl sich Videos von Gruppenvergewaltigungen finden lassen und die neuere Gewaltforschung eine gewisse Präferenz für die Analyse visuell dokumentierten Gewalthandelns entwickelt hat, entscheidet sich Wolters gegen die Analyse von Videos. Diese sei nicht nur aus forschungsethischen Gründen problematisch, sondern Videos zeigten sexuelle Gewalt typischerweise aus der Perspektive der Täter (und zudem unvollständig). Also stützt sich Wolters auf Berichte von Opfern, Untersuchungsausschüssen, der Presse sowie auf Fachliteratur und Gerichtsurteile. Ihr Material präsentiert sie in acht Fallvignetten und diskutiert zusätzlich die Ereignisse der Kölner Silvesternacht und auf dem Kairoer Tahrir-Platz.
Wolters fragt zunächst, was bei Gruppenvergewaltigungen eigentlich vorgeht und zeigt, dass in sexuell gewalttätigen Interaktionen unterschiedliche Handlungsrahmungen hervorgebracht werden, mittels derer die Täter ihr Handeln legitimieren, und dass sie diese ihren Opfern aufzuzwingen versuchen. Wolters nimmt dabei axiomatisch an, „dass das Ausüben sexueller Gewalt das Potenzial hat, Spannungen im Selbstbild und der Selbsterzählung der Akteure zu verursachen, und diese deshalb mit der Herstellung und Stabilisierung von bestimmten situativen Deutungen der gewaltsamen Interaktion beschäftigt sind. Situativ gemachte Bezüge auf andere, nicht gewaltsame Interaktionsordnungen“ interpretiert sie als „Versuche […] mit diesen Spannungen umzugehen“ (S. 282).
Unter dem Stichwort „Gewalt“ (Kapitel 3 und Kapitel 4) analysiert Wolters Gruppenvergewaltigungen zunächst als Strafaktionen. Unter anderem an Beispielen aus Kairo und dem bekannten Fall aus Neu-Delhi zeigt sie, wie Täter sexuelles Gewalthandeln legitimieren, indem sie es als Sanktionierung eines Fehlverhaltens des Opfers rahmen. Sexuelle Gewalt werde mithin als „Regulativ sozialer Beziehungen“ (S. 166 ff.) gedeutet, wobei das Opfer nicht verdinglicht, sondern als Person adressiert werde. Es sind also gerade die Wechselwirkungen zwischen Tätern und Opfer(n), die die gewaltförmige Interaktion ausmachen, da Bestrafung darauf abziele, auf Personen einzuwirken. An Wolters’ Material wird zudem deutlich, dass die Rahmung „Bestrafung“ während der Taten eine Rolle spielt und nicht von den Täten erst ex post vorgeschoben wird. Zugleich unterscheidet Wolters unterschiedliche Strafaffekte: Vergeltung, Sühne und Strafaffekte, die „explizit auf die Gestaltung des sozialen Miteinander ziel[en], und zwar in der Form von Disziplinierung, Züchtigung und Erziehung“ (S. 166). Die Gewalt fungiert in diesen Fällen nicht als Mittel zur Erzwingung sexueller Handlungen, sondern „die sexuellen Handlungen, die Penetrationen sind Mittel des (als legitim gedeuteten) gewaltsamen Antuns“ (S. 176). Insofern würden Sexualität und Gewalt in diesem Deutungsrahmen von den Tätern nicht unterschieden.
Der Deutungsrahmen „Sexualität“ (Kapitel 5) basiert hingegen auf der Unterscheidung von Gewalt und Sexualität. In der Gewaltinteraktion versuchten die Täter eine Mitwirkung ihrer Opfer an sexuellen Handlungen zu erreichen, um so den Deutungsrahmen „Sexualität“ herzustellen bzw. ihren Opfern aufzuzwingen. Dazu werde diesen ein (illusorischer) Handlungsspielraum suggeriert und so ihre Wahrnehmung verunsichert und ihnen eine Verstrickung in die Taten aufgezwungen. In den Gewaltinteraktionen dieses Typs zeige sich ein „Ringen um Situationsdeutung. Die Täter versuchen immer wieder und mit großem Nachdruck, ihr Verhalten als ‚normal‘ zu rahmen, was in Kontexten sexueller Gewalt bedeutet, dass sie sexuelle Skripte und Evidenzerfahrungen abrufen – indem sie ihre Taten entweder pornografisieren oder Akte der Einwilligung und der Mitwirkung zu erzwingen suchen“ (S. 221). Eine besondere Perfidie bestehe darin, dass der „Zwang zur Mitwirkung […] den Opfern die Deutungshoheit über die ihnen angetane Gewalt [entzieht]“ und sie zwinge, „die erlebte sexuelle Gewalt nicht (nur) als Ausnahmezustand zu erfahren, der das Alltägliche auslöscht, sondern gerade auch in Kontinuitäten mit dem Sexuellen, mit der Welt und sich selbst“ (S. 220).
Gruppendynamiken analysiert Wolters anhand einer Vergewaltigung, die sich aus der Eskalation eines übermütigen „Gruppenvergnügens“ entwickelt (Kapitel 6). Die Taten sind hier weder durch sexuelle Lust noch durch Bestrafungsaffekte motiviert, sondern fügen sich in das Spaßhandeln der Gruppe ein, während das Opfer – im Gegensatz zu den Deutungsrahmen „Bestrafung“ und „Sexualität“ – nicht als Person adressiert wird. Nachdem sich die Gruppe bereits zuvor beim (betrunkenen) „Unsinn machen“ fotografiert bzw. gefilmt hatte (Typus peinliche Partyfotos), übt sie gegen eines ihrer Mitglieder sexuelle Gewalt aus. Die Gewalt dient jedoch weder dazu, sexuelle Handlungen zu erzwingen, noch erinnern diese an die alltägliche Sexualität der Gruppenmitglieder. Auffällig ist, dass „die Täter hier ihr Handeln nicht als eigenes sexuelles Tun [deuten], was bedeutet, dass sie es auch nicht normalisieren. Sexuelles Handeln wird hier gleichwohl auf andere Weise inszeniert. Nicht die eigene Rolle wird sexualisiert, sondern das, was [dem Opfer] angetan wird. Es ist eine von den Beteiligten als lächerlich gedeutete, spaßhafte Imitation von Geschlechtsverkehr“, wobei die Penetration mittels „phallusartiger Gegenstände […] Distanz zum eigenen (libidinös empfindungsfähigen) Körper“ der Täter*innen schaffe (S. 242 f.). Als das Opfer wieder zu Bewusstsein kommt, zu schreien beginnt und somit den Deutungsrahmen Gewalt aufruft, enden die sexuellen Handlungen.
Gerade in diesem Fall zeige sich eine „Prozesshaftigkeit des Geschehens“, da „vorbestehende Motive und instrumentelle Überlegungen […] das Ausgelassene der Situation nur äußerst schlecht erklären [können]. Die Art und Weise, wie die Täter:innengruppe die Übergriffe steigert und vorantreibt, lässt sich nur begreiflich machen, wenn man die Verwobenheit von dynamischer Entfaltung der Interaktion mit bereits bestehenden Beziehungen bedenkt“ (S. 251).
Die von Wolters analysierten Deutungsrahmen von „Vergewaltigung als legitime Gewalt, als sexuelle Interaktion und als Gruppenaktivität“ werden freilich nicht im Kontext des jeweiligen Tatgeschehens „erfunden“. Vielmehr handle es sich um „leicht verfügbare Deutungsangebote […], die situativ von Tätern und Opfern abgerufen und ausgestaltet werden können“ (S. 252 f.). Freilich seien diese Deutungen nicht „als vorgefasste Pläne oder Motive, sondern als sozial hergestellte, situativ interpretierbare Interaktionsordnungen der Gewalt“ zu begreifen, wobei sich abzeichne, „dass mit den jeweils unterschiedlichen Deutungsangeboten auch verschiedene Gewaltpraktiken einhergehen“ (S. 253). So habe sich gezeigt, „dass nur in jenen Fällen, in denen die Situationsdeutungen der Täter Gewalthandeln als Gewalt legitimiert haben – nämlich als Strafe –, die sexuellen-invasiven Handlungen selbst als gewaltsam bzw. brutal gerahmt wurden. In den anderen Fällen hat die Gewaltdeutung eher gestört, und sie wurde entweder von den sexuellen Interaktionen abgespalten oder hat gleich die ganze Inszenierung unterbrochen“ (S. 253).
Wolters’ kontrastierende Materialauswahl erlaubt es, Muster zu erkennen. Es stellt sich allerdings die Frage, warum sie es bei den ausgewählten Fallvignetten belässt, anstatt systematisch Fälle einzubeziehen, in denen die Täter mit der sexuellen Gewalt und/oder der Durchsetzung ihrer Deutungsrahmen scheitern, „in denen sich das Vergnügen von Täterkollektiven durch das Weinen und Flehen von Opfern noch verstärkt“ (S. 250) oder in denen Opfer (erfolgreich) zu entkommen versuchen.
Ungelöst bleibt außerdem das Problem, dass sich die Taten kaum aus Perspektive der Täter analysieren lassen bzw. dass deren Perspektive aus der Perspektive ihrer Opfer rekonstruiert werden muss (haben die Täter doch kein Interesse, „frei“ über ihre Taten zu sprechen). Hier scheint ein doppeltes Manko auf, das sich nur durch eigene empirische Forschung oder die Analyse von Videomaterial ausbalancieren ließe. Zwar sind Wolters’ Gründe, ihre Analysen nicht auf Videos zu stützen, nachvollziehbar, da aber (körperliche) Praxen den Akteur*innen diskursiv kaum zugänglich sind, besteht die Gefahr, dass Wolters’ Analysen der körperliche Vollzug sexueller Gewaltinteraktionen letztlich entgeht.
Jenseits dieser Kritik und dem Fokus auf Gruppenvergewaltigungen kann die Sexualforschung von Wolters’ souverän geschriebenem Buch mehrere Dinge lernen, nämlich insbesondere die mikrosoziologische Analyse sexueller Interaktionen aus Perspektive der Interagierenden. Außerdem die Bedeutung von interaktiv hervorgebrachten Deutungsrahmen, die sexuelle Interaktionen strukturieren. Erfahren lässt sich aber nicht nur etwas über die Möglichkeiten der soziologischen Interaktionsanalyse, sondern auch etwas über die Grenzen, die der Rekonstruktion körperlicher Praxen bei ausschließlicher Verwendung textförmigen Materials gezogen sind.
Neuland erschließt Wolters aber insofern, als sie eine Form sexueller Gewalt, über die ohnehin wenig Forschung vorliegt, aus der Perspektive der neueren Gewaltsoziologie untersucht.
Sven Lewandowski (Bielefeld)
Publication History
Article published online:
05 June 2023
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