Aktuelle Urol 2023; 54(06): 417-418
DOI: 10.1055/a-2059-0765
Editorial

Editorial

Désirée Louise Dräger
1   Urologische Klinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Rostock, Rostock, Germany
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Inkontinenz ist eine Diagnose, die außer mit Unannehmlichkeiten auch mit viel Scham behaftet ist. Es ist nicht das erste Thema, über das man im Freundeskreis spricht. Aber das bedeutet nicht, dass unsere Patienten und Patientinnen damit allein sind! Man schätzt die Zahl der Betroffenen allein in Deutschland auf über 10 Millionen Menschen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich viel höher, der Leidensdruck ebenfalls. Von den in Deutschland mit einer behandlungs- oder versorgungsbedürftigen Inkontinenz lebenden Menschen sind mehr als 2 Millionen älter als 60 Jahre. Grundsätzlich sind Frauen wesentlich häufiger betroffen als Männer, auch im Seniorenalter. Dennoch wird das Thema in den meisten Fällen totgeschwiegen: Nur jeder fünfte Betroffene geht wegen einer Harninkontinenz zum Arzt. Viele gehen erst zum Arzt, wenn sich die Inkontinenz nicht mehr verbergen lässt. Zu hoch ist die Angst, in der Öffentlichkeit oder in der Familie „enttarnt“ zu werden. So nehmen sich die Betroffenen jede Chance auf Besserung – gerade mit modernen Hilfsmitteln könnte man sich den Alltag erleichtern.

Das Schweigen der Männer – weitverbreitet aber immer noch Tabu – die männliche Inkontinenz: Baunacke et al. berichten über die Epidemiologie und Risikofaktoren sowie die Versorgungssituation der männlichen Inkontinenz. Der große Anteil, der eine Belastungsinkontinenz hat, bekommt diese nach einer radikale Prostatektomie. Die Inkontinenzrate nach solchen Operationen liegt bei ca. 10–15%. Übergewicht, Alter und Bestrahlung sind weitere Risikofaktoren. Therapien sind vorhanden, werden aber leider häufig nicht genutzt – zu groß ist die Scham. Rojas et al. stellen mögliche Therapieformen der Inkontinenz mithilfe von Implantaten dar. Es gibt eine Vielzahl der Möglichkeiten zur patientenindividuellen Versorgung – zur optimalen Auswahl der Methode sollte eine ausführliche präoperative Patientenaufklärung und Diagnostik durchgeführt werden, um eine postoperative Zufriedenheit sicherzustellen. Ein Gadget, das unseren Patientinnen und Patienten Kontrolle über die Blasenfunktion zurückgeben soll und damit die Lebensqualität verbessert, ist der DFree-Ultraschallsensor, vorgestellt durch Schönburg et al. Hierbei handelt es sich um ein nicht-invasives tragbares Gerät, das die Blase mit einem Ultraschallsensor überwacht und Benachrichtigungen über Smartphone oder Tablet sendet, wenn ihre Betroffene auf die Toilette müssen.

Kommunikation ist alles – Höfling-Streitenfeld demonstriert einen sehr patientenorientierten und -zentrierten Zugang zu konservativen Maßnahmen in der Behandlung der weiblichen Harninkontinenz. Durch eine geschickte Anamnese und einer enttabuisierten Beziehung mit den Betroffenen kann bereits viel erreicht werden. Der Leidensdruck ist und bleibt groß, obwohl es erfolgversprechende Therapien gibt. Patienten und Patientinnen, die unter einer Harninkontinenz leiden, sind erheblich psychosozial belastet. Die Folgen sind: depressive Verstimmungen, Sexualstörungen, sozialer Rückzug, Einschränkungen der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund werden potenzielle psychosoziale Auswirkungen durch Dräger et al. illustriert.

Wenn es gelingt, die Betroffenen bei der Überwindung ihrer Scham zu begleiten und Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, kann bei gebotener Empathie ein breites Spektrum an Maßnahmen angeboten werden. Ein konsequenter Algorithmus bei der Therapieauswahl und jeweiligen Überprüfung des Erfolges sollte trotz hoher Inzidenz und Prävalenz letztlich allen Betroffenen eine angemessene Versorgung ermöglichen. Zahlreiche Hinweise lassen allerdings noch erheblichen Aufholbedarf erkennen.



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Article published online:
16 November 2023

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