Aktuelle Ernährungsmedizin 2023; 48(04): 315-317
DOI: 10.1055/a-2060-7488
Gesellschaftsnachrichten
Gesellschaftsnachrichten des Verbands der Diätassistenten e.V. (VDD)

Rückblick auf den VDD-Bundeskongress 2023

Ernährung(stherapie) so hoch auf der politischen Agenda wie nie

Zufriedene Stimmen und eine tolle Resonanz: Der VDD-Bundeskongress war mit rund 1.500 Teilnehmenden (Diätassistenten, Ernährungsmedizinern, Ernährungswissenschaftlern und Oecotrophologen) auch in diesem Jahr wieder sehr erfolgreich. Mit mehr als 60 Vorträgen und Diskussionsforen bot er das neueste Wissen in Sachen Ernährungstherapie und Prävention, zudem brandaktuelle politische Themen: Die Versorgung im Krankenhaus wurde aus diversen Blickwinkeln diskutiert, ebenso die neuen Qualitätsverträge, die der Gemeinsame Bundesausschuss seit diesem Jahr ermöglicht hat (dazu später mehr). Im Mittelpunkt des interdisziplinär gestalteten Kongresses standen die Schwerpunkte Mangelernährung und Adipositas sowie die Situation der Ernährungstherapie in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen – neben zahlreichen fachlichen Sessions beispielsweise zu Pädiatrie, Niereninsuffizienz, Palliativmedizin oder auch Long COVID.


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Nach wie vor erhebliche ernährungsmedizinische Defizite in den Krankenhäusern

VDD-Präsidentin Uta Köpcke wies bei der Eröffnung darauf hin, dass es nach wie vor erhebliche Defizite gibt, wenn es um die ernährungstherapeutische Versorgung der Patienten in Krankenhäusern geht. Sie forderte, das Thema aus der „Ernährungsbubble“ heraus in die Öffentlichkeit zu bringen und die anstehende Krankenhausreform dazu zu nutzen, die Ernährungstherapie endlich strukturell und finanziell im Gesundheitssystem zu verankern.

Prof. Dr. Matthias Pirlich, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM [Abb. 1]) sagte, noch nie sei die Ernährungstherapie in der Politik, im Bundesgesundheitsministerium und im Bundesernährungsministerium, so weit oben gewesen wie derzeit. Diesen Rückenwind gelte es zu nutzen.

In seinem Eröffnungsvortrag zum Stand der Forschung in Sachen Mangelernährung betonte er, dass die Forschung in den vergangenen 20 Jahren viele belastbare Daten zur Situation mangelernährter Patienten erhoben habe.

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Abb. 1 Den Eröffnungsvortrag beim VDDBundeskongress hielt DGEMPräsident Prof. Dr. Matthias Pirlich (Quelle: Helen Nicolai)

20 Jahre nach der German Hospital Malnutrition Study hat sich offenbar einiges getan: Es gibt eine überzeugende globale Evidenz über das Risiko für Mangelernährung und die Wirksamkeit von Screenings und Ernährungstherapie, beispielsweise in der Nourish [1] - und der Effort-Studie [2]: Sie belegen, dass die Sterblichkeit eindeutig sinkt, wenn Mangelernährung behandelt wird.

Für die Diagnose stehen jetzt konsentierte Kriterien (GLIM) fest, für die Behandlung gibt es die Leitlinien der Fachgesellschaften DGEM und ESPEN. Die Ausbildung der Ärzte wurde erweitert, sowohl was die Ausbildungsinhalte im Studium, als auch die Zusatzweiterbildung Ernährungsmedizin angeht. Es gibt den OPS-Kode Ernährungsmedizinische Komplexbehandlung sowie seit kurzem die Option, Qualitätsverträge Mangelernährung abzuschließen. Vor allem aber, so Pirlich, gibt es Ansätze, die Ernährungsversorgung als Menschenrecht zu definieren und Mangelernährung auch auf Ebene der WHO Europe als Problem zu benennen. Die Ergebnisse des nutritionDay in deutschen Kliniken 2018 zeigen jedoch, dass die Versorgung den Kenntnissen hinterherhinkt: Immer noch ist ein knappes Viertel der Patienten mangelernährt oder gefährdet.

Dreh- und Angelpunkt für eine Veränderung ist einer Stellungnahme von 24 Fachgesellschaften zufolge, die Ernährungsmedizin im Krankenhaus zu stärken und Strukturen wie das Vorhalten von Diätassistenten zu verankern. Die Ernährungstherapie aber nicht auf das Krankenhaus zu beschränken, sondern auch in der Langzeitpflege bzw. in ambulanten Versorgungsstrukturen festzuschreiben, mahnte VDD-Präsidentin Uta Köpcke an.


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Qualitätsverträge als große Chance für die Ernährungsmedizin

Zum Auftakt der Session „Qualitätsverträge und Mangelernährung“ ([Abb. 2], S. ) machte PD Dr. Michael Adolph klar, was das Credo der Bundesregierung bedeutet, die Krankenhausversorgung in Zukunft modern und bedarfsgerecht zu gestalten. Er sah die Klinikreform und in diesem Zusammenhang auch die neuen G-BA-Qualitätsverträge Mangelernährung als große Chance, die Ernährungsmedizin als festen Bestandteil einer Behandlung im Krankenhaus aufzuwerten. Der Weg zu einer ausreichenden Finanzierung der Ernährungstherapie sei lang, aber die ersten Schritte mit der Etablierung des OPS-Kodes 8–98j Ernährungsmedizinische Komplexbehandlung und dem Qualitätsvertrag Mangelernährung jetzt getan. Die Qualitätsverträge zwischen Einrichtungen und Krankenkassen sind frei verhandelbare Einzelverträge, für die der G-BA jetzt den Weg geebnet hat. Erste Vertragsschlüsse werden vermutlich im 4. Quartal 2023 möglich sein.

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Abb. 2 Die Entwicklung geht in die richtige Richtung: Die Diätassistenten Daniela Schweikert (Tübingen), Lars Selig (Leipzig) und Robert Speer (Nürnberg) diskutierten mit PD Dr. Michael Adolph (Ernährungsmediziner Tübingen) und Tanja Frary (Techniker Krankenkasse), wie die Qualitätsverträge Mangelernährung künftig umzusetzen sind (v.l.n.r., Screen: L. Richard)

Krankenkassen können Qualitätsverträge nicht ablehnen, Kliniken aber schon, erläuterte Tanja Frary für die Techniker Krankenkasse. Leider sei die Anzahl der Qualitätsverträge (in anderen Segmenten) bisher noch sehr überschaubar, da der Abschluss einen nicht unerheblichen Aufwand mit sich bringt. Der lohne sich aber, war sie überzeugt. Genau wie Dr. Adolph ermunterte auch sie die Krankenhäuser dazu, den OPS-Kode Ernährungsmedizinische Komplexbehandlung anzuwenden und damit Daten zur Situation in den Krankenhäusern zu generieren. „Ohne Daten und ohne Fälle ist das Problem für uns als Krankenkasse nicht greifbar“, sagte sie. Dem pflichtete auch Dr. Adolph bei: Mangelernährung müsse codiert werden, damit sie erlösrelevant werde. Er empfahl, die Strukturprüfung für den OPS-Kode sozusagen als Wegbereitung zu beantragen.


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Ernährungsscreening bei allen Patienten: Mangelernährung aufdecken und codieren

Welche Chancen sich mit dem neuen Qualitätsvertrag Mangelernährung für Diätassistenten bietet, schilderten Daniela Schweikert (Universitätsklinikum Tübingen) und Lars Selig (Universitätsklinikum Leipzig). Auch wenn es die Qualitätsverträge noch nicht gebe, sei schon jetzt der Dialog mit den Krankenkassen möglich. Daher sei es gerade zu Beginn wichtig, die erforderlichen Strukturen und Prozesse aufzubauen und sämtliche Leistungen des Ernährungsteams zu analysieren, penibel zu dokumentieren (am besten digital) und nachvollziehbar zu machen. Daniela Schweikert verwies insbesondere auf die Teilnahme an Visiten und den interdisziplinären Austausch v. a. mit Pflege und Diätküche. Doch mit dem Aufenthalt in der Klinik sei es nicht getan, so Schweikert: Auch die Versorgung im Anschluss daran und z. B. die Erwähnung im ärztlichen Entlassbrief sollten ein Muss werden.

In Leipzig beginnt der ganze Prozess des Ernährungsmanagements und ggf. der Ernährungstherapie bereits bei Aufnahme ins Krankenhaus, erklärte Lars Selig. Anhand von 4 einfachen Fragen (Vorscreening durch das aufnehmende Personal) wird bereits klar, ob ein Ernährungsscreening auf Mangelernährung (durch das Ernährungsteam) angebracht ist. Je nach Status wird entschieden, in welchen zeitlichen Abständen eine weitere Überprüfung des Ernährungszustandes erforderlich oder ob mit einer sofortigen Ernährungstherapie zu beginnen ist. Für das Screening ist ein Zeitfenster von 24 Stunden eingeplant, je früher eine Behandlung beginnen kann, umso zielführender und erfolgversprechender ist sie. Sämtliche Schritte sind im System des Krankenhauses (SAP) hinterlegt, d. h. der Status ist jederzeit aktuell abrufbar. Die Daten bleiben auch für Folgeaufenthalte in der Klinik, Patienten und Ernährungsteams profitieren also langfristig davon. „Es ist viel Anfangsarbeit, die Strukturen aufzubauen, aber sie lohnt sich, weil man mit diesen Strukturen gut arbeiten kann und jeder Schritt dokumentiert wird“, empfahl Selig dieses Vorgehen.

Schweikert und Selig sagten übereinstimmend, dass sich eine Klinik nicht scheuen sollte, einen Qualitätsvertrag abzuschließen. Diätassistenten sollten das Thema anstoßen: Auf diese Weise ließen sich Ernährungsteams etablieren, da sie dann ja auch finanziert werden.

Hintergrundwissen

VDD-Award 2023 an STEFANIE ULMER und VDD-Sonder-Award an SABINE OHLRICH-HAHN


In diesem Jahr konnte sich Stefanie Ulmer, Diätassistentin und Diabetes- assistentin DDG an den Helios Kliniken Schwerin über den VDD-Award freuen ([Abb. 3]). Er wird Diätassistenten verliehen, die sich in herausragender Weise für den Beruf, für das Sichtbarmachen in der Öffentlichkeit sowie das Gemeinwohl einsetzen. Ulmer ist Leitende Diätassistentin im Viszeralonkologischen Zentrum mit den Schwerpunkten Adipositas, Onkologie und perioperatives Ernährungsmanagement. Anerkennung hat sie sich auch mit dem Programm „PfiFf- Ernährungsschulungen für pflegende Angehörige“ erworben.

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Abb. 3 Überrascht und sichtlich erfreut: Stefanie Ulmer, Schwerin, ist die Preisträgerin des VDD-Awards 2023 (Quelle: Helios Schwerin Ernährungsteam)

Laudatorin Birgit Leuchtmann-Wagner sagte, durch jahrelange, beharrliche Präsenz in der Klinik habe die Preisträgerin Ärzte, Pflege und Service für die Ernährungstherapie sensibilisieren können. Auf diese Weise konnte sie weitere Stellen für Diätassistenten schaffen. Hervorzuheben sind zudem


der Aufbau von ambulanten Sprechstunden und Kooperationen mit Ausbildungsstätten für Diätassistenten und Pflegekräfte auf regionaler Ebene sowie


bundesweite Schulungen/Workshops für andere Kliniken zur Verankerung der ERAS-Strukturen.


Ulmers Arbeit machte nicht nur den Beruf der Diätassistenten bekannter, sondern führt auch zur Verbesserung von Versorgungsstrukturen. Die Auszeichnung bedeute für sie einen ordentlichen Motivationsschub mit vielen neuen Ideen für ihr tolles Team, freute sich Ulmer über die Ehrung.


Sabine Ohlrich-Hahn erhält einen VDD-Sonder-Award Zum zweiten Mal vergab der VDD in diesem Jahr einen Sonder-Award: Für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde Sabine Ohlrich-Hahn, Hochschule Neubrandenburg ([Abb. 4]). Mit ihrem Namen sind mehr als drei Jahrzehnte Engagement im VDD und u. a. die Entwicklung und Implementierung des German-Nutrition Care Prozesses (G-NCP) sowie das Vorantreiben der Reformierung und Akademisierung des Berufes verbunden.Sie habe unglaublich viel geleistet für die Entwicklung der Berufsgruppe, für den Berufsverband und letztlich für die Qualität in Ausbildung und Arbeitsumfeld. Sie sei eine tolle Teamplayerin, eine starke Säule der Diätetik und habe ihr Wissen an viele Kollegen und Kolleginnen weitergegeben, so die vielstimmige Laudatio von etlichen Wegbegleitern aus dem VDD und von Kooperationspartnern.Präsidentin Uta Köpcke dankte Sabine Ohlrich-Hahn im Namen des gesamten VDD für die hervorragende fachliche Arbeit, die sie in den Verband hereingetragen und der sie sich lange Jahre ehrenamtlich gewidmet habe. Ihr Wunsch sei, so Ohlrich-Hahn, dass die Diätassistenten als kompetente Berufsgruppe weiterhin sichtbar bleiben und ihre wertvolle Arbeit transparent und nachvollziehbar zum Wohl der Menschen leisten könnten.

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Abb. 4 „Ich denke, dass wir alle mit dem G-NCP etwas Großes geschafft haben. Mir ist das eine Herzensangelegenheit und ich danke für die große Auszeichnung“, so Sabine Ohlrich-Hahn, die den Sonder- Award für ihr Lebenswerk in Empfang nehmen konnte (Quelle: privat)

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Luise Richard



Publication History

Article published online:
22 August 2023

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  • Literatur

  • 1 Deutz, Nicolaas & Matheson, Eric & Matarese, Laura & Luo, Menghua & Baggs, G.E. & Nelson, Jeffrey & Hegazi, Refaat & Tappenden, Kelly & Ziegler, Thomas. NOURISH Study Group. Readmission and mortality in malnourished, older, hospitalized adults treated with a specialized oral nutritional supplement: A randomized clinical trial. Clin Nutr 2016; 35: 18–26
  • 2 Schuetz P, Fehr R, Baechli V, Geiser M, Deiss M, Gomes F et al. Individualised nutritional support in medical inpatients at nutritional risk: a randomised clinical trial. 2019. DOI: DOI: 10.1016/S0140-6736(18)32776-4