Geburtshilfe Frauenheilkd 2023; 83(10): 1173-1178
DOI: 10.1055/a-2065-5182
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie

Im Schatten von Weltkrieg und Wissenschaftsboykott (Ehrenmitgliedschaften Teil 3)

Wolfgang Frobenius

1920: „Glanz und Macht sind dahin“

„Niedergebrochen nach ungeheuren Anstrengungen, zerrissen von der Raffgier unserer Feinde, krank, schwerkrank an innerem Zwist liegt unser armes Vaterland darnieder, Glanz und Macht sind dahin, und von den äußeren Gütern dieser Welt ist uns nicht viel mehr geblieben“ [1]. Mit diesen Worten beklagte Ernst Bumm (1858–1925) ([Abb. 1]), damaliger Vorsitzender der seinerzeitigen Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie (DGG), die Situation, in der er Ende Mai 1920 in Berlin den ersten Kongress der DGG nach dem Weltkrieg eröffnete [2].

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Abb. 1 Ernst Bumm (1858–1925). Quelle: Franz K. Nachruf auf Ernst Bumm. Arch Gynäkol 1925; 123: I–VI

Wie viele Zeitgenossen konnte Bumm die Niederlage Deutschlands nicht akzeptieren und bediente den nationalistischen Mythos einer im Felde vermeintlich unbesiegten deutschen Armee, indem er die „deutsche Kraft“ und den „alten deutschen Geist“ beschwor, die „4 Jahre lang einer Welt von Feinden siegreich Widerstand geleistet“ hätten. Gleichzeitig rief er zum Wiederaufbau auf. Dazu müssten alle „Zentren geistiger Tätigkeit, der Wissenschaft, der Moral, der Intelligenz, des Willens mobil gemacht werden und sich zusammentun, um gemeinsam bei der Erneuerung mit gutem Beispiel und mit Mut voranzugehen“ [3].

Die Notwendigkeit dazu war unübersehbar: In Folge des Krieges zeigten sich die wissenschaftlichen, kollegialen und menschlichen Verbindungen zu einem großen Teil der internationalen Scientific Community gekappt oder zumindest schwer gestört. Deutschland und Österreich sahen sich vonseiten der Alliierten einem Kongressboykott ausgesetzt, die gemeinsame Sprache wurde in der Wissenschaft konsequent zurückgedrängt [4]. Beiderseits hoch geschätzte wochenlange Professional Visits, wie die der Mitglieder des American Gynecological Clubs 1912 und 1914 in den Operationssälen der bekanntesten Frauenkliniken Deutschlands und Österreichs, gehörten der Vergangenheit an [5].



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
05. Oktober 2023

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  • Literatur und Anmerkungen

  • 1 Bumm E. [Eröffnungsrede]. In: Bumm E, Martin E, Sigwart W. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie, sechzehnte Versammlung, abgehalten zu Berlin am 26.–29. Mai 1920. Zweiter Teil: Sitzungsbericht. Leipzig: Johann Ambrosius Barth; 1921: 3
  • 2 Bumm zählt zu den bedeutendsten deutschen Gynäkologen. Hierzu: Ludwig H. Ernst Bumm (1858–1925). Forscher, Lehrer, Leitfigur. Gynakologe 2004; 863–866: DOI: 10.1007/s00129-004-1542-7 ; ferner: David M. „Nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein“ – aus Nachrufen auf Ernst Bumm. In: David M, Ebert AD, Hrsg. Geschichte der Berliner Universitäts-Frauenkliniken. Berlin: Walter de Gruyter; 2010: 191–199
  • 3 Wie Anm. 1, 4
  • 4 Einen Überblick zum Forschungsstand hinsichtlich des Wissenschaftsboykotts gegen Deutschland einschließlich spezieller Literaturhinweise gibt: Reinbothe R. Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg (Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft 67). Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang; 2006: 1–14
  • 5 Eby MW, Longo LD. Furthering the profession: the early years of the American Gynecological Club and its first European tours. Am J Obstet Gynecol MFM 2002; 99: 308-315 DOI: 10.1016/s0029-7844(01)01728-8. (PMID: 11814514)
  • 6 Wie Anm. 1, 4
  • 7 Wie Anm. 1, 7. Nachfragen oder eine Diskussion dieses Beschlusses sind nicht dokumentiert. Eine Streichung von der Mitgliederliste sah die damalige Satzung nur vor, wenn Mitgliedsbeiträge zweimal nicht bezahlt worden waren.
  • 8 Schickelé wurde am 13.05.1875 im elsässischen Altmünsterol (Montreux-Vieux) geboren. Er starb vergleichsweise jung bereits am 21. April 1927 in Basel. Im Sommer 1914 zählte er, nicht zuletzt dank der Beurteilung Fehlings, zu den chancenreichsten Kandidaten für die Neubesetzung des Ordinariates in Innsbruck, das dann aber an den Österreicher Paul Mathes ging. Universitätsarchiv Innsbruck, Berufungsakten Zugriff am 10. Mai 2023 unter: https://www.uibk.ac.at/universitaetsarchiv/medizinische-berufungsakten-seit-1869-/berufungsakten-ab-1869_02/berufungsakten-ab-1869_061_uai_m-1055_1913–14.pdf
  • 9 Steidl K. Hermann Fehling [Nachruf]. Monatsschr Geburtshilfe Gynakol 1926; 72: 126-128
  • 10 Fehling H. Die Entwicklung der Geburtshilfe im 19. Jahrhundert. Berlin: Springer; 1925. – Das „Fehling’sche Röhrchen“ zum Abfluss einer Pyometra ist ihm zuzuschreiben, die „Fehling’sche Lösung“ zum quantitativen Nachweis von Zucker in Flüssigkeiten seinem Vater.
  • 11 Eberle H. Hermann Fehling. Kurzbiografie: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zugriff am 10. Mai 2023 unter: https://www.catalogus-professorum-halensis.de/fehlinghermann.html
  • 12 Zu Mathes: Nebesky [Oskar]. Paul Mathes [Nachruf] Monatsschr Geburtshilfe Gynakol 1923; 64: 243–245; ferner: Ludwig H. Die Reden. Zusammengestellt und mit kurzen Einleitungen versehen von Professor Dr. Hans Ludwig, Basel. 2. Aufl. (erweitert). Heidelberg u. a.: Springer; 1999: 97–99
  • 13 Arch Gynakol 1922; 117: 4. Es handelte sich um die Mainzer Frauenärztin Gabriele Broer-Lindemann (1886–1941) und die Assistenzärztin an der Universitätsfrauenklinik Prag, Klara Schoenhof (gest. 1929). Erstere war bereits durch einige Publikationen hervorgetreten, Letztere hielt 1927 als erste Frau einen Vortrag beim DGG-Kongress in Bonn. Zu Gabriele Broer-Lindemann/AEIK00302, Dokumentation „Ärztinnen im Kaiserreich“, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin. Zugriff am 10. Mai 2023 unter: http://geschichte.charite.de/aeik/ – Schoenhof, Clara. Das Problem der Geburtenregelung. Arch Gynakol 1927; 132: 59–63
  • 14 Zweifel wurde in Höngg bei Zürich geboren. Er hat sein Berufsleben nahezu komplett in Deutschland verbracht: ab 1872 Fachausbildung und Habilitation in Straßburg (damals deutsch), dann 1876 Ordinarius in Erlangen und ab 1887 bis 1922 in Leipzig, wo er 1927 starb. In der DGGG wird er deshalb nicht als „Ausländer“ mit Angabe einer Nationalität geführt.
  • 15 Martin A, Döderlein A, Seitz L. et al. Wilhelm Tauffer [Laudatio zum 70. Geburtstag]. Monatsschr Geburtshilfe Gynakol 1921; 55: 38-39
  • 16 [Anonym]. Wilhelm Tauffer [Nachruf]. Monatsschr Geburtshilfe Gynakol 1935; 98: 320. Für das genaue Todesdatum: Österreichisches Biografisches Lexikon (ÖBL) Zugriff am 10. Mai 2023 unter: https://www.biographien.ac.at/oebl?frames=yes DOI: 10.1553/0x002f7b02
  • 17 Nebesky O. Paul Mathes [Nachruf]. Monatsschr Geburtshilfe Gynakol 1923; 64: 243-245
  • 18 Felix W. Professor Dr. med. Theodor Wyder [Nekrolog]. Rektoratsrede und Jahresbericht April 1926 bis Ende März 1927, S. 45–46. Universität Zürich. Jahresberichte. Zugriff am 10. Mai 2023 unter: https://www.archiv.uzh.ch/de/editionen/jahresberichte.html
  • 19 Walthard M. Theodor Wyder [Nachruf]. Arch Gynakol 1926; 128: II-IV DOI: 10.1007/BF01942190.
  • 20 Wyder T. Perforation, künstliche Frühgeburt und Sectio caesarea in ihrer Stellung zur Therapie beim engen Becken. Arch Gynakol 1888; 32: 1-95
  • 21 Wyder T. Beiträge zur normalen und pathologischen Histologie der menschlichen Uterusschleimhaut. Arch Gynakol 1878; 13: 1-55 DOI: 10.1007/BF01991414.
  • 22 Wie Anm. 18
  • 23 Besucher aus „anderen Ländern“ waren laut Anwesenheitsliste beispielsweise je ein Arzt aus dem UK, aus Brasilien, den USA sowie aus Tsingtau (China). Arch Gynakol 1927; 132: XXI–XLI
  • 24 Jantsch M. Piskaček Ludwig. Österr. Biograph. Lexikon 1815–1950, Bd. 8. In: . Wien: Österr. Akad. Wissenschaften; 1980: 99 DOI: 10.1553/0x00283e26
  • 25 Franz T. Prof. Ludwig Piskaček [Nachruf]. Monatsschr Geburtshilfe Gynakol 1933; 93: 134-136
  • 26 Baskett T. Eponyms and Names in Obstetrics and Gynaecology. In: . 3rd. Cambridge: Cambridge Medicine; 2019: 327
  • 27 Sellheim H. Zukunftspläne der Geschlechtsbeziehungen und Frauenkunde. Arch Gynakol 1929; 137: 636-680
  • 28 Baumm P. Gewichtsveränderungen der Schwangeren, Kreissenden und Wöchnerinnen bei der in der Münchener Frauenklinik üblichen Ernährungsweise derselben [Dissertation]. München: LMU; 1887
  • 29 Deutscher Gynäkologenkalender. Biographisch-bibliographisches Verzeichnis der deutschen Frauenärzte, hrsg. von Walter Stoeckel, bearb. von Friedrich Michelson. Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1928, 48; Gauß CJ, Wilde B. Die deutschen Geburtshelferschulen. München-Gräfelfing: Edmund Banaschewski, 1956, 183
  • 30 Eine Bibliografie Baumms in: Gynäkologenkalender 1928, S. 15 (Anm. 28)
  • 31 Arch Gynakol 1929; 137: XLVII
  • 32 Frobenius W. Nichthabilitierte kamen selten zum Zuge (Ehrenmitgliedschaften Teil 1). Die DGG-Ehrenmitgliedschaften bis 1956 unter formalen Gesichtspunkten. Geburtshilfe Frauenheilkd 2023; 83: 636-640 DOI: 10.1055/a-1998-8361.
  • 33 Vgl. Ludwig H. Bumm, Zweifel, Kubli und andere – Beispiele der akademischen Verflechtung zwischen der Schweiz und Deutschland. Gynakol Geburtshilfliche Rundsch 2001; 41: 174–181; ferner: Frank T. Deutsch-ungarische kulturelle Beziehungen 1867–1945. Plenarvorträge des Humboldt-Kollegs „Neue Grenzen – New Frontiers“ Zugriff am 01. März 2023 unter: http://www.humboldt.hu/sites/default/files/hn36–13–26-frank_deutsch-ungarische_kulturelle_beziehungen_1867–1945.pdf
  • 34 Arch Gynakol 1925; 125: XXXVII. Der Wissenschaftsboykott, ursprünglich bis 1931 terminiert, wurde 1926 vorzeitig beendet.
  • 35 Franqué O. Eröffnungssitzung der XX. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie am 8. Juni 1927. Arch Gynakol 1927; 132: XLIII
  • 36 Vgl. Ludwig H, Jonat W Hrsg. Vom Programm zur Botschaft. A short history (1886–2008) of the German Society of Gynecology and Obstetrics reviewing its 57 congresses. 2. ergänzte und erweiterte Aufl. Frankfurt a. Main: Varioplus Druck- & Medien GmbH, 2008: 51 [Tab. Die 20er Jahre: Schwerpunktthemen]
  • 37 Ein entsprechender Vorschlag des damaligen Präsidenten August Mayer wurde allerdings von Walter Stoeckel abgelehnt. Universitätsarchiv Tübingen, 150/33,41 n.p. [Mayer in einem Rückblick auf seinen Kongress 1935].