Aktuelle Urol 2023; 54(05): 342-344
DOI: 10.1055/a-2101-2292
Referiert und kommentiert

Kommentar zu: Videourodynamik: Einschätzung der Blasenfunktion mithilfe von Maschinenlernen

Rezensent(en):
Bernhard Haid
1   Abteilung für Kinderurologie, Ordensklinikum Linz GmbH Barmherzige Schwestern, Linz, Austria
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Die Entwicklung und Anwendung von Artificial Intelligence (AI) Anwendungen ist in aller Munde – mit all ihren faszinierenden Möglichkeiten bis hin zu einer beachtlichen Performance bei komplexen Prüfungen wie beispielsweise den USMLE (United Stated Medical Licensing Exams) durch ChatGPT – aber auch mit ihren möglichen Gefahren [1]. Der Ruf nach einer Regulierung in Konzeption und Anwendung dieser neuen Technologien ist sicherlich genauso berechtigt wie die Skepsis ob ihres Stellenwertes als „Ersatz“ für einen Arzt. Letztlich erscheint es aber doch wesentlich wahrscheinlicher, dass Ärzte, die solche Technologien gezielt und effektiv einsetzen können diejenigen ersetzen werden, die dazu nicht in der Lage sind.

Bei der Interpretation von (pädiatrischen) urodynamischen Studien existieren selbst für eine grobe Risikoklassifikation große interindividuelle Abweichungen, allein die Einigung auf relevante Messgrößen ist mitunter nicht einfach [2] [3]. Somit ist es nicht verwunderlich, dass bereits die Etablierung eines „ground truth“ im Rahmen der vorliegenden Studie mittels Interpretation durch mehrere erfahrene Kollegen die Grenzen einer „eindeutigen“ Interpretation aufzeigt. Trotz aller Einschränkungen ist die „Kunst“ der Interpretation einer urodynamischen Studie die Basis für unsere Empfehlungen zum Follow-up und zur Therapie bei Kindern mit neurogenen Blasenentleerungsstörungen. Im Rahmen der John Duckett Lecture beim Jahreskongress der AUA 2023 in Chicago betonte Jonathan Routh (Duke University, NC), die Notwendigkeit einer Verbesserung unter anderem aufgrund des inhärenten „cognitive bias“ – unter Verweis auf die Möglichkeiten der AI. Die Analyse dieser komplexen Daten ist folglich ein sinnvolles und großartiges Experimentierfeld für diese neuen Technologien.

Die in der vorliegenden Studie angewandte Deep-learning-Strategie, bei der eine Vielzahl analytischer Schichten (layers) zu einem machine learning gebündelt wird, ermöglicht vor diesem Hintergrund eine doch erstaunlich genaue Annäherung an die Ergebnisse aus der Begutachtung durch sehr erfahrene Kinderurologen. Am ehesten vergleichbar ist diese Technologie mit der Erkennung von Handschriften, ausgehend von der Detektion von einzelnen Punkten. Im Falle dieser Studie wurden in das endgültige erfolgreichste („ensemble“) Modell nur Detrusordruck Daten (Blasendruck – Abdominaldruck) und Bilddaten zumindest teils gefüllter Blasen integriert. Beispielsweise ließ sich kein „Mehrwert“ der Integration eines Beckenboden-EMGs nachweisen. Alle anderen Daten – und damit eine Masse an für den menschlichen Beurteiler ganz wesentlicher Informationen – wurden ausgeschlossen: folglich stellt diese besonders durch ihre Methodologie faszinierende Single-center-Analyse lediglich einen groben, ersten Versuch dar, sozusagen einen proof of principle.

Vom konkreten, praktischen Einsatz in der Klinik ist diese Methode noch weit entfernt.

Allerdings wird durch die hier nur teils genutzte bzw. nutzbare Datenbasis auch klar, welches Potenzial in solchen Anwendungen stecken könnte: letztlich könnte ein ideales Deep-learning-Modell, basierend auf allen klinischen, urodynamischen und Bilddaten nicht nur der gemeinsamen, groben Einschätzung von Experten (none/mild, moderate, severe) noch wesentlich näher kommen; vielmehr besteht hier das Potenzial „Noise“ [4], im Sinne von unerwünschten Einflussfaktoren auf unser Urteil als Kliniker (z.B. persönliche Erfahrungen, tagesabhängige Schwankungen) auszuschließen und eine Interpretationshilfe für urodynamische Untersuchungen zu schaffen, die Genauigkeit und Effizienz steigert. Wenn zusätzlich deren Algorithmen die zukünftigen klinischen Verläufe miteinbeziehen und vorauszusagen in der Lage sind, werden solche Daten integraler Bestandteil der Begründung von Therapieindikationen sein und könnten sich folglich stark positiv für unsere Patienten auswirken. Bis dahin liegt noch ein weiter Weg vor uns.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
23. August 2023

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