Diabetes aktuell 2023; 21(06): 243
DOI: 10.1055/a-2107-3938
Editorial

Ist Diabetes eine übertragbare Erkrankung?

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H. Schwarz
2   Dresden
› Institutsangaben

Diese Frage wird immer wieder kontrovers diskutiert. Epidemien und Pandemien sind wir von Infektionserkrankungen gewohnt. Wie kann aber eine Erkrankung, die nicht übertragbar ist, eine Pandemie auslösen? Für manche Kollegen ist das ein No-Go. Andere wiederum argumentieren, dass der Zuwachs an Patienten mit Diabetes dem einer Pandemie entspricht und deswegen auch als solche bezeichnet werden sollte. Wiederum andere argumentieren, dass das keine Rolle spielt, sondern man sich auf die Qualität der Versorgung für eine wachsende Anzahl von Menschen mit Diabetes konzentrieren sollte - egal was die Ursache ist.

Sicherlich sprechen die letzteren Argumente eine wichtige Wahrheit aus-als Wissenschaftler möchte man aber gern verstehen, wo das Problem herkommt. Steigt die Anzahl von Menschen mit Diabetes einfach dadurch, dass die Weltbevölkerung steigt oder gibt es auch andere Faktoren? Vielleicht ist Diabetes ja doch eine übertragbare Erkrankung, nur in anderem Sinne?

Analysiert man die Zahlen von Erkrankten bis ins Jahr 1980 zurück sieht man, dass nur etwa die Hälfte der Patienten heute mit dem Zuwachs der Bevölkerung erklärbar sind. Etwa 45 % der Diabetes-Patienten weltweit gehen heute auf Veränderungen unseres Lebensstils und unseres Umfeldes zurück. Insbesondere Indien sticht dabei mit 106 Millionen Patienten mit Diabetes und 136 Millionen Prädiabetikern heraus. Verblüffend ist, dass der Diabetes in Indien vorwiegend weiblich ist und Patientinnen mit einem BMI von 24 im Alter von 25 Jahren erkranken. Diese haben den klassischen Typ-2-Diabetes, so wie wir ihn beschreiben würden. In Saudi-Arabien dagegen sieht man eine Zunahme der Diabetesprävalenz über alle Altersgruppen und Patientenklientel hinweg. Man rechnet 2030 mit mehr als 50 % Diabetesprävalenz in Saudi-Arabien. Auch wenn das 2 besondere Beispiele sind (immerhin betrifft es 1,5 Milliarden Menschen) bewirkt es doch, dass wir gerade nach der COVID-Pandemie stärker über Gesundheitsdeterminanten nachdenken müssen. Unstrittig ist, dass die Veränderung des Lebensstils die Diabetesprävalenz anfeuert. In diesem Kontext ist Diabetes vielleicht doch eine übertragbare Erkrankung. Wir wissen, dass wir intuitiv den Lebensstil unserer Familie, unseres Umfeldes, unserer Freunde kopieren. Ändert sich dieser Lebensstiel hin zu mehr Diabetesrisiko, übernehmen wir diesen intuitiv und damit kann man den Diabetes als eine quasi übertragbare Erkrankung im sozialen Kontext betrachten. Weiterhin gibt es immer mehr Daten, die nicht nur Klimawandel, insbesondere aber Luftverschmutzung im Kontext mit der Zunahme der Diabetesprävalenz betrachten. Alle Regionen in der Welt, in denen Diabetes heute drastisch zunimmt, sind auch die Regionen mit starker Luftverschmutzung. Nun werden sicherlich Partikel in der Luft nicht Diabetes auslösen, sondern insgesamt das kardiovaskuläre aber auch das metabolische und das inflammatorische Risiko für den Patienten erhöhen-und damit mehr Diabetesfälle erzeugen. Auch das könnte im weitesten Sinne eine Quasi-Übertragbarkeit von Diabetesrisiko und Diabetes bedeuten.

Was bedeutet das für uns? Letztendlich bedeutet es die Übertragbarkeit von Diabetes zu verhindern oder einzuschränken. Das, was die Maske in der COVID-Pandemie war, könnten 10 000 Schritte täglich für die Diabetes-Pandemie bedeuten. Das, was die Impfung während der COVID-Pandemie bedeutete, kann ein gesundes Ernährungsmuster mit dem Fokus auf die Verhinderung von Akkumulation von Fett in der Leber bedeuten.

Diabetes hat viele Charakteristika, die wir sonst nur von übertragbaren Erkrankungen kennen. Diese haben wir aber weltweit gut eindämmen können. Lassen Sie uns unser Wissen als Wissenschaftler nutzen, um die Übertragbarkeit von Diabetes zu reduzieren und damit vermutlich die Übertragbarkeit von vielen anderen chronischen Erkrankungen gleichermaßen positiv zu beeinflussen.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
17. Oktober 2023

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