PiD - Psychotherapie im Dialog 2024; 25(02): 102-103
DOI: 10.1055/a-2124-0085
Resümee

Persönlichkeitsstörungen

Gestörte Persönlichkeit?

Persönlichkeitsstörung. Lassen Sie sich das Wort nochmals für einige Minuten in aller Ruhe auf der Zunge zergehen.

Persönlichkeitsstörung.

Was aktiviert der Begriff bei Ihnen? Beispielsweise zu Beginn deutliche Ambivalenz und Unverständnis, mit anschließender Ratlosigkeit, kombinierter Angst, Wut oder emotionaler Taubheit? Im Abgang ein langanhaltender Hauch von Empathie und möglicherweise eigener Ohnmacht? Persönlichkeitsstörungen sind, metaphorisch gesprochen, vielschichtige, komplexe und durchaus etwas sperrige Weine.

Vielleicht haben Sie sich während des Lesens dieses Themenheftes an Ihre erste Vorlesung in Sozialpsychologie und den fundamentalen Attributionsfehler erinnert. Demnach neigen Menschen dazu, die Wirkungen von Personen auf diese selbst zurückzuführen, und vernachlässigen die Faktoren der äußeren Umgebung. Fundamental ist der Attributionsfehler deshalb, weil die direkte Wirkzuschreibung auf die Person zu vereinfachend ist.

Der grundlegende Attributionsfehler ist auch bei Persönlichkeitsstörungen zu beobachten. Persönlichkeitsstörungen sind nach wie vor tabuisiert und stigmatisiert. Menschen mit einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung haben mitunter massive und langanhaltende negative Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt und im Gesundheitssystem zu befürchten. In manchen Fällen werden sie z. B. von Versicherungsleistungen ausgeschlossen. Die eigene Persönlichkeitsstörung wäre auch nicht gerade das geschickteste Thema, das als Eisbrecher im Smalltalk angesprochen würde.

Umgekehrt sind Gespräche über „toxische“ Persönlichkeiten en vogue. An welche toxischen Persönlichkeiten denken Sie gerade? Vielleicht an Putin oder Trump? Der Begriff der Persönlichkeitsstörung birgt die Gefahr, mit einer toxischen Persönlichkeit gleichgesetzt zu werden, deren Machtmotiv völlig durchgeknallt ist und grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Strukturen zerstört. Haben Putin und Trump also eine Persönlichkeitsstörung? Möglicherweise ja, möglicherweise nein. Auf jeden Fall sind die Begriffe zu nahe beieinander, um nicht in der Alltagssprache verwechselt zu werden.

Es wäre jedoch ein fundamentaler Fehler, toxische Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung ein einen Topf zu werfen, auch wenn dies der Logik des fundamentalen Attributionsfehlers entsprechen würde. Das vorliegende Themenheft verfolgt eine andere Philosophie: In den einzelnen Beiträgen wird nicht schwarz-weiß gemalt, sondern es werden differenzierte Grautöne und Farben in Diagnostik und Therapie gesucht. Gleichzeitig sind die Beiträge so konzipiert, dass sie die zentralen Aspekte in ein leserfreundliches Format einbinden.

In den 3 Standpunkte-Artikeln kondensieren Kramer, Babl und von Sydow den aktuellen empirisch-konzeptuellen Stand der Forschung bezüglich psychotherapeutischer Wirkfaktoren, Schematheorien und systemisch-multiperspektivem Fallverständnis. In den 5 darauffolgenden Diagnostik-Artikeln weisen Hopwood, Trinkler, Steiner und Co-Autor*innen, Allemand & Stieger sowie Ehrenthal auf die Relevanz einer sorgfältigen, multidimensionalen Konzeption zum Verständnis von Persönlichkeitsstörungen hin. Alle diese Beiträge stellen auf eine eindrückliche Weise dar, wie konzeptuell differenziert und empirisch gewissenhaft das moderne Verständnis und die damit verbundene Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen voranschreitet.

Die 7 darauffolgenden therapeutischen Beiträge von Strunk & Kröger, Vidalón Blachowiak und Co-Autor*innen, Buchheim & Buchheim, Aguilar-Raab & Ochs, Zitzmann und Co-Autorinnen, Müller, Jacob und Co-Autor*innen skizzieren eine moderne Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, die den Aufbau eines empirisch gestützten Behandlungsnetzwerks verlangt. Diese Behandlungsnetzwerke umfassen ambulante und stationäre Angebote für die Betroffenen selbst sowie den engen Einbezug des sozialen Umfelds in Beruf, Familie und Freizeit. Therapeutische Redundanz und Koordination der unterschiedlichen therapeutischen Angebote scheinen das Gebot der Stunde. Patient*innen können nicht einzelne Wunderheiler erwarten, jedoch optimalerweise ein tragfähiges Netz an sorgfältig informierten untereinander vernetzten Behandler*innen, die in ihrer Kombination Personen mit Persönlichkeitsstörungen auffangen.

Als kleine Selbstkritik am Themenheft, haben wir uns gegen einen gesonderten Beitrag zur medikamentösen Behandlung von Persönlichkeitsstörungen entschieden. Dies mit dem Selbstbewusstsein, dass die Psychotherapie bei der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen eine äußerst zentrale Rolle innehat.

Gibt es also gestörte Persönlichkeiten?

Ja, es gibt sie, und die Gesellschaften scheinen weniger gut auf sie vorbereitet zu sein, als dies im psychotherapeutisch-behandlungsorientierten Kontext der Fall zu sein scheint, wie dieses Themenheft sorgfältig belegt. Psychotherapie ist im unmittelbaren Umgang mit Persönlichkeitsstörungen während Therapiesitzungen ziemlich gut aufgestellt. Es wäre jedoch ein verlockender Trugschluss zu glauben, dass die sozialen Auswirkungen gestörter Persönlichkeiten durch deren Pathologisierung und Therapie beseitigt werden könnten.

Christoph Flückiger & Silke Wiegand-Grefe



Publication History

Article published online:
27 May 2024

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