Z Sex Forsch 2023; 36(03): 187-188
DOI: 10.1055/a-2127-6496
Buchbesprechungen

Dictionnaire historique du lexique de l’homosexualité. Transferts linguistiques et culturels entre français, italien, espagnol, anglais et allemand

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Nicholas LoVecchio. Dictionnaire historique du lexique de l’homosexualité. Transferts linguistiques et culturels entre français, italien, espagnol, anglais et allemand. Strasbourg: Éditions de Linguistique et de Philologie 2021. 516 Seiten, EUR 55,00

Diese umfangreiche Studie basiert auf der Dissertation des Autors an der Sorbonne im Fach Linguistik von 2019. Sie untersucht die sprachlichen Transferprozesse im wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Wortschatz zur Bezeichnung weiblicher und männlicher Homosexualität und benachbarter Begriffe in fünf europäischen Sprachen. Die Arbeit dokumentiert eine ausgezeichnete Beherrschung der fünf herangezogenen Sprachen, das Französische ist die verwandte Hauptsprache. Die Sprachbeispiele im Französischen und in den anderen vier herangezogenen Sprachen (Italienisch, Spanisch, Englisch, Deutsch) beeindrucken durch ihre Vielfalt, sowohl in historischer wie auch in soziokultureller Hinsicht. Die zwölf Hauptkapitel sind neben einer Einleitung durchgängig in viele Unterkapitel gegliedert, die den fünf Sprachen folgen, jedoch je nach Begriffsursprung unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Viele Kapitel und Unterkapitel können mühelos übersprungen werden, wenn nur einzelne Passagen von besonderem Interesse sind. Der Rezensent beherrscht drei von den fünf Sprachen (Deutsch, Englisch und Französisch) und konzentriert sich in der Besprechung auf die Teile der Arbeit, in denen es um einige bedeutsame Begriffe in diesen Sprachen geht.

Die zwölf Kapitel widmen sich den Oberbegriffen „Sodomit“, Bougre (im Deutschen Bougre und Ketzer), Berdache (Two-Spirit), „Tribade“, „Päderast“, Sapphiste, „Urning“, „Invertierte*r“, „Homosexuelle*r“, „gay“, „queer“. Wegen des knappen verfügbaren Raums erfolgt in der Kommentierung der Analyse dieser Leitbegriffe eine weitere Einschränkung. Neben den Begriffen „Sodomit“, „Gay“ und „Queer“ sollen diejenigen Begriffe stärker berücksichtigt werden, deren Entstehungsprozess besonders mit dem deutschen Sprachraum verbunden ist, also „Urning“ („Urninde“), „Invertierte*r“ und „Homosexuelle*r“. LoVecchio zeichnet in seinem Lexikon die im Laufe der europäischen Geschichte erfolgte Begriffsentwicklung zu gleichgeschlechtlich sexuell agierenden Personen nach; gleichzeitig verweist er auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts abnehmende religiös und psychiatrisch bedingte Stigmatisierung bei der Entwicklung neuer Termini.

Der erste diskutierte Hauptbegriff ist der der „Sodomie“. Thomas von Aquin (1225–1274), einer der einflussreichsten Kirchenväter, verstand unter den widernatürlichen Sündenakten (contra naturam) nicht nur gleichgeschlechtliche Sexualkontakte, sondern auch die Selbstbefriedigung, Sexualkontakte mit Tieren und Sexualkontakte, die nicht der Fortpflanzung dienten. Aber nur gleichgeschlechtliche Sexualkontakte, sei es unter Männern oder unter Frauen, werden in seiner „Summa Theologiae“ als sodomitisches Laster definiert. Diese religiös bedingte Kategorisierung und Ablehnung gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte als sündhafte Sodomie hielt sich in allen fünf berücksichtigten Sprachräumen bis ins 20. Jahrhundert. Während noch Richard von Krafft-Ebing in der siebten Auflage seiner „Psychopathia Sexualis“ 1892 betonte, dass er dem „herrschenden Sprachgebrauch“ folge, indem er „Bestialität und Päderastie unter dem gemeinsamen Ausdruck Sodomie“ (zit. n. nach LoVecchio, S. 49) fasse, neigte die französische Medizin Ende des 19. Jahrhunderts zur Einengung der Wortbedeutung von Sodomie auf (vor allem) männliche gleichgeschlechtliche Sexualakte (insbesondere auf den analen Koitus). Für Sexualakte mit Tieren wurde fortan der Terminus Bestialité (Bestialität) bevorzugt. Selbst in der laizistischen III. Republik wurde somit der religiös konnotierte Begriff beibehalten.

Ein weitaus längeres Leben als „Bougre“ (zweites Kapitel, im Englischen: Bugger), „Berdache“ (drittes Kapitel, noch im postkolonialen Englischen: Bardass, heute: Two-Spirits) und „Tribade“ (viertes Kapitel, der Begriff war im Französischen, Englischen und Deutschen gleichlautend für lesbische Frauen) hatte der Begriff „Päderast“ (im Französischen: Pédéraste, im Englischen: Pederast). Der Begriff war keineswegs auf die Bedeutung „Knabenschänder“ eingeengt, sondern zielte insgesamt auf gleichgeschlechtlichen Sex praktizierende Männer. LoVecchio macht sich einen Spaß daraus, eine Schmährede Martin Luthers gegen den Papst zu zitieren: „[…] Pedasterey, und was mehr der heilige Stuel zu Rom in seinem allerheiligsten leben treibt“ (zit. n. LoVecchio, S. 193). Unter konservativen Französ*innen hielt sich der Begriff „Pédéraste“ bis weit ins 20. Jahrhundert als Bezeichnung für homosexuelle Männer. Analog zu den deutschen Homosexuellen, die das herabsetzende Wort „schwul“ als positiv konnotierte Selbstbezeichnung für sich übernahmen, übernahmen die französischen Homosexuellen den Begriff als Selbstbezeichnung in der Abkürzung Pédé oder PD (S. 179).

Sprachübergreifend wurde der Begriff „Lesbierin/Lesbienne/Lesbian“ (siebtes Kapitel) von den betroffenen Frauen im 20. Jahrhundert als Selbstbezeichnung angenommen, als einen Hintergrund hierfür sieht LoVecchio den Umstand, dass er als weniger pathologisierend als „Tribade“ wahrgenommen wurde. Noch im 19. Jahrhundert habe der Begriff nicht nur Frauen mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen bezeichnet, sondern auch leidenschaftliche oder schamlose und lasterhafte Frauen.

Die vom deutschen Juristen und Schriftsteller Karl Heinrich Ulrichs geschaffenen Begriffe „Urning“ und „Urninde“ waren, so LoVecchio, die ersten Termini, die im Rahmen eines Kampfes für Emanzipation und Gleichberechtigung geschaffen wurden. Ebenso wie „Urning“ und „Urninde“ entstand der Begriff „Homosexualität“ und „Homosexueller“ im deutschen Sprachraum, kreiert vom österreichisch-ungarischen Schriftsteller und frühen Aktivisten der Homosexuellenbewegung Karl Maria Kertbeny. LoVecchio zeichnet den Entstehungsprozess dieser Begriffe mit großer Sachkenntnis – gerade auch der deutschsprachigen Literatur – nach. Obwohl auch in kämpferischer aktivistischer Perspektive geschaffen, verbreitete sich dieser Begriff seit Ende des 19. Jahrhunderts im großen Umfang im medizinisch-psychiatrischen Diskurs. Die terminologische Zusammenführung aus dem griechischen homo (ähnlich, gleich) und sexuel (auf Lateinisch: auf Sexualität bezogen) gab dem Begriff eine neutrale szientifische Anmutung, mit Verzicht auf mythologische Rückgriffe auf die Antike. Um die Nicht-Homosexuellen zu bezeichnen, entstanden ironischerweise – so LoVecchio – sprachlich aus dem Homosexuellen der Heterosexuelle und Bisexuelle, Bezeichnungen, die es davor auch nicht gegeben hatte. Die Vereinnahmung des Begriffs durch die Medizin und Psychiatrie, führte – entgegen den Absichten seines Schöpfers – wiederum zu einer pathologisierenden klinischen Konnotation, ein Schicksal, das dem Begriff „heterosexuell“ erspart blieb. Die europaweite Presse-Berichterstattung über die Eulenburg-Affäre, die Aufdeckung der Homosexualität von Personen des preußischen Hochadels im Umfeld von Kaiser Wilhelm II., trug zur europäischen Ausbreitung des Begriffs bei. Sehr zum Missfallen von Marcel Proust, der den Begriff als viel zu germanisch und pedantisch kritisierte. Er hielt es lieber mit der „verfemten Rasse der Invertierten“ (zit. n. Eribon 2019: 218), wie Eribon es in seinen „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ in Prousts Worten ausdrückt.

Im Rahmen des Darstellungskonzepts von LoVecchio, aus der Reihenfolge der besprochenen Schlüsselbegriffe gleichzeitig eine Stufenfolge der immer geringer werdenden stigmatisierenden Aufladung des Begriffs aufzuzeigen, ist es konsequent, dass die beiden letzten ausführlich diskutierten Begriffe, „gay“ und „queer“, am Ende seiner Studie erscheinen. „Gay“ ist der bislang in den fünf untersuchten Sprachen der – vor „queer“ – am meisten verbreitete und mit „queer“ am wenigsten mit Stigma aufgeladene Begriff. Er ist ein neuer Begriff, der nicht von alten negativen Konnotationen befreit werden musste und der für die lesbisch-schwulen Emanzipationsbewegungen seit den 1970er-Jahren in Nordamerika und Westeuropa steht, obwohl er eher für homosexuelle Männer als für homosexuelle Frauen (auch in der Selbstbezeichnung) verwandt wurde. Im deutschsprachigen Raum hat er den Begriff „schwul“ nicht ersetzt.

Der Begriff „queer“ markiert LoVecchio zufolge insofern eine Premiere, als er nicht nur für schwule Männer und lesbische Frauen verwandt wird, sondern auch für Transfrauen und -männer, Intersexuelle und andere nicht-heterosexuelle Personen. „Queer“ werde in kritischer nicht-binärer Perspektive verstanden und ziele weniger auf Homosexualität als auf die Infragestellung von Heterosexualität. Der Begriff bezeichne ein weniger starres und fluides Selbstverständnis von „Identitäten“, das sowohl die sexuelle Orientierung und Gender als soziale Konstruktion von Geschlecht umfasse. Das „Konzept Queer“ (S. 443) diene als widerständige Selbstdefinition auf der persönlichen Ebene, als streitlustiger alternativer Theorieansatz, und – ganz banal – als praktisches Kürzel für die endlose Aneinanderreihung von Anfangsbuchstaben in LGBTIQ (etc.). In dieser Hinsicht behalte der Begriff einen Hauch der Bedeutung des englischen Ursprungswortes: seltsam, eigenartig, sonderbar, verrückt – Eigenarten, die von queeren Menschen nicht selten als ihre Eigenschaften stolz reklamiert würden in Absetzung von der vorherrschenden „Heteronormativität“. „Queer“ soll sich einer „straighten“ verkürzenden Definition entziehen, so LoVecchio. In dieser gewünschten Mehrdeutigkeit und in der Kürze des Begriffs sieht der Autor auch einen Grund für die schnelle internationale Verbreitung Anfang des 21. Jahrhunderts. Der Autor verschweigt nicht die Kritik in den nicht-heterosexuellen Communitys an bestimmten Rigiditäten postulierter „queerer“ Korrektheit. Er verweist auch auf die Kritik in der sogenannten allgemeinen Öffentlichkeit. Einem Großteil letzterer unterstellt er jedoch eher denunziatorische Absichten als ein Bemühen um eine faire Diskussion. Wie andere Kapitel in der Studie kann sein Kapitel über „Queer“ als kennzeichnend für sein Bemühen um Differenziertheit und sorgfältige Analyse gelten. Eine Übersetzung des „Dictionnaire“ ins Deutsche oder Englische wäre zweifellos ein Gewinn.

Michael Bochow (Berlin)



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Article published online:
12 September 2023

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