Nervenheilkunde 2023; 42(11): 751-755
DOI: 10.1055/a-2136-4895
Zu diesem Heft

Psychiatrische Modellvorhaben (nach § 64b) – bereit für die Regelversorgung?

Sebastian von Peter
,
Julian Schwarz
,
Peter Brieger
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Prof. Dr. med. Sebastian von Peter, Oberarzt, Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Immanuel Klinik Rüdersdorf, Medizinische Hochschule Brandenburg, Foto: ©privat
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Dr. med. Julian Schwarz, Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Immanuel Klinik Rüdersdorf, Medizinische Hochschule Brandenburg. Foto: ©privat
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Prof. Dr. med. Peter Brieger, Ärztlicher Direktor, Kbo-Isar-Amper-Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU, Haar. Foto: ©privat

Mit Einführung der psychiatrischen Modellvorhaben (nach § 64b SGB V) im Jahr 2013 sind in Deutschland die Möglichkeiten für innovative, settingübergreifende psychiatrische Versorgungsformen erweitert worden. Auf Grundlage eines klinikbezogenen globalen Behandlungsbudgets (GBB) sollen die Modellvorhaben zur „Weiterentwicklung der Versorgung psychisch kranker Menschen, die auf eine Verbesserung der Patientenversorgung oder der sektorenübergreifenden Leistungserbringung ausgerichtet ist, einschließlich der komplexen psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld“ (siehe § 64b SGB V) beitragen. Derzeit gibt es deutschlandweit 22 Modellvorhaben ([ Tab. 1 ]). Ein Teil dieser Modellprojekte baut auf Vorläuferverträgen (nach § 24 Bundespflegesatzverordnung; BPflV) auf, die Anfang der 2000er-Jahre erstmals die Erprobung eines regionalen Psychiatriebudgets (RPB) ermöglichten. Das RPB stellte für jeweilige Versorgungskliniken eine gleichbleibende pauschale Vergütung über mehrere Jahre sichern, die an den Auftrag geknüpft war, mit den vorhandenen Ressourcen die akutpsychiatrische Versorgungsverantwortung für die gesamte Region zu übernehmen. Vereinbarungen nach § 24 BPflV wurden v. a. in Schleswig-Holstein getroffen, und zwar für die Versorgungsregionen bzw. Landkreise Rendsburg-Eckernförde, Steinburg und Dithmarschen. 2013 sind alle diese Verträge in die Rahmenbedingungen des § 64b SGB V überführt worden, was eine Fortführung der bestehenden Versorgung ermöglichte.

Tab. 1

Übersicht über den aktuellen Stand der Modellversorgung (Juli 2023). Mit freundlicher Überlassung von Dr. Bettina Wilms.

Landkreis (A = Klinik am Allgemeinkrankenhaus)

Einwohner

§ 64b seit

Konstrukt

Kostenträger

Laufzeit

Hanau (A)

215000

2013

IV/OVP

alle

31.12.2026

Steinburg (A) (Itzehoe)

135000

2013

RPB

alle

31.12.2027

Rendsburg-Eckernförde (A)

270000

2013

RPB

alle

31.12.2025

Dithmarschen (A) (Heide)

135000

2013

RPB

alle

31.12.2027

Herzogtum-Lauenburg (A) (Geesthacht)

193000

2013

RPB

alle

31.12.2025

Nordfriesland (Bredstedt)

166000

2013

RPB

alle

31.12.2025

Zwickau (A)

93000 (+ KJP)

2013

RPB

alle

31.12.2024

Glauchau (A)

130000

2013

RPB

alle

31.12.2024

Nordhausen (A)

86000 (+ KJP)

2014

RPB

alle

Vertragsverhandlungen?

Rüdersdorf (A)

230000

2014

IV/OVP

TK/Barmer

nicht verlängert!

Hamm (A)

190000

2014

RPB

alle

31.12.2028

Lüneburg

420000

2014

RPB

AOK Niedersachsen

31.12.2024

Berlin Mitte-Tiergarten/Mitte-Wedding Treptow-Köpenick

610114

2014

IV

Barmer GEK

nicht verlängert!

Bochum

400000

2015

IV

alle (ab 1.1.2023)

31.12.2028

Riedstadt

330 000 (+ KJP)

2016

IV

alle

31.12.2023

Friedberg (A)

200000

2016

IV/OVP

alle

31.12.2023

Berlin Friedrichshain-Kreuzberg/Spandau/Reinickendorf/Tempelhof-Schöneberg/Neukölln/Marzahn-Hellersdorf

1 684 238 (+ KJP)

2016

RPB

DAK

31.12.2023

Bonn

960000

2016

RPB

TK/Barmer GEK/DAK

30.09.2024

Heidenheim (A)

130000

2016

RPB

alle

31.12.2023

Tübingen

KJP

2017

AOK/SVLFG

30.09.2025

Mannheim

Adoleszente

2018

GBV 12 Regionen

7 Mio. Volumen: 8,9 Mio. Euro

2019

Einzel-leistungen + Vorhalte pauschale

TK, AOK RH, AOK BY, KKH, 15 BKK (über GWQ)

30.06.2023

Klingenmünster

850 000 (+ KJP)

2020

RPB

alle

31.12.2027

Sowohl bei den Modellvorhaben als auch deren Vorläufer, dem RPB, stellt die Finanzierung über ein GBB die zentrale Voraussetzung dar. Das GBB kann eine mehr oder weniger ausgeprägte Kontinuität und gleichzeitig Flexibilisierung der Krankenhausbehandlung ermöglichen, je nachdem, ob es sich um ein Teil- oder ein Gesamtbudget handelt, also je nachdem, mit wie vielen gesetzlichen Krankenkassen ein Vertragsabschluss gelungen ist. Die Budgetfindung orientiert sich an der Zahl der behandelten Menschen pro Jahr ([ Abb. 1 ]). International ordnet sich diese budgetäre Abrechnungsform zwischen „Block Contracts“ und dem „Capitation Payment“ ein: Beide Ansätze sichern dem Leistungserbringer jeweils ein im Vorfeld verhandeltes fixes jährliches Budget zu, welches unabhängig von der erbrachten Leistungsmenge (d. h. Fallzahl) ist. Während Block Contracts auf Grundlage „historischer“ Ausgaben verhandelt werden, wird bei dem Capitation Payment auf Basis der jährlichen patientenbezogenen durchschnittlichen Versorgungskosten ein Gesamtbudget ermittelt. Um diese Besonderheiten der Modellversorgung auch terminologisch zu fassen und die internationale Anschlussfähigkeit zu gewährleisten, wurde der Begriff des GBB gewählt.

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Abb. 1 Budgetfindung in psychiatrischen Modelvorhaben nach § 64b SGB V (nach Daten aus [8]).

Durch die veränderte Vergütungssystematik hat sich eine Vielfalt an Versorgungsstrukturen und -prozessen entwickelt und verändert, die je nach Modellregion stark variieren. Diese Unterschiede lassen sich durch die lokalen Versorgungskontexte, politischen Unterstützungs- und Entscheidungsprozesse und das Engagement von Akteuren vor Ort begründen. Gleichwohl gibt es regions- und studienübergreifende Gemeinsamkeiten, die sich in einer Reihe von Evaluationsstudien und anderen Forschungsvorhaben zum Thema GBB immer wieder zeigen. Zunächst wird deutlich, dass die Finanzierung der psychiatrischen Krankenhausversorgung über ein GBB nur bedingt Versorgungskosten einspart [1]–[3], [5], [16]. Wohl kommt es zu einer Verschiebung der Kosten vom vollstationären in den ambulanten und teilstationären Bereich. Insgesamt sind die Umstrukturierungen von einem Abrechnungsmodell auf der Basis tages- und leistungsbezogener Entgelte hin zu einem pauschalen Globalbudget als mindestens kostenneutral einzuschätzen.

Diese Verschiebung geht im Versorgungsalltag einher mit einer Reihe struktureller und prozessualer Umstrukturierungen: Stationäre Behandlungsplätze werden abgebaut bei gleichzeitiger Aufweitung des ambulanten und teilstationären Leistungsangebotes [1], [4], [6], [7], [10]–[16]. Es kommt zu einer Reduktion der vollstationären Liegezeiten und Behandlungstagen, und gleichzeitig zu einem Anstieg von ambulanten und teilstationären Fällen. Neue Behandlungskonzepte werden entwickelt, die insgesamt mehr Behandlungskontinuität und Flexibilität, also personenzentrierte Unterstützung erlauben [4], [7], [9]–[14]. Möglicherweise dadurch bedingt wird in mehreren kontrollierten, multizentrischen Studien eine Besserung des Funktionsniveaus beschrieben [2], [3], [5]. In einzelnen Studien reduzierte sich unter Modellbedingungen die Symptomlast, die Krankheitsschwere und die Suizidalität bei Entlassung gegenüber der Aufnahme [5], [6]. Interessant sind die Ergebnisse zweier Studien, die eine Reduktion der Anzahl und Dauer von Unterbringungen nach PsychKG unter Modellbedingungen sowie eine reduzierte Anzahl von Fixierungen nachweisen [6], [9].

Außerdem scheinen die Patienten mit der Modellversorgung zufrieden zu sein [12], [17]. Sowohl in einer standardisierten Befragung als auch mit Hilfe qualitativer Verfahren lässt sich einrichtungsübergreifend eruieren, dass die Umstrukturierungen infolge der Modellversorgung für die Patienten im Alltag erlebbar sind [12]–[14], [17]. Der Erfahrungsgrad steigt dabei mit steigendem Implementierungsgrad. Und die positive Bewertung der Modellversorgung steigt mit steigendem Erfahrungs- und Implementierungsgrad.

Die Einschätzung der Mitarbeitenden ist hingegen ambivalenter: Die Umstrukturierungen können viel Mehrarbeit bedeuten, obgleich sie in einer Studie zu einer Reduktion von Überstunden führten [6], [18]. Deutlich wird eine Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden über die Berufsgruppen hinweg, und zwar sowohl unter den Bedingungen des RPB als auch unter denen der Modellversorgung [12]–[14]. Vor allem die Pflege beschreibt eine Aufwertung der eigenen Berufsgruppe durch die modellspezifischen Umstrukturierungen. Die Effekte auf Seiten der Angehörigen sind durchweg unterforscht. Aus laufenden Studien sind diesbezüglich mehr Erkenntnisse zu erwarten. Deutlich wird, dass die ambulanteren Behandlungsformen bei Angehörigen zu neuen Formen der Belastung führen können. Auf der anderen Seite schätzen Angehörige, dass auch sie auf festere Ansprechpartner bauen können sowie die Flexibilisierung des Behandlungsangebotes.

Inzwischen gibt es also ausreichend Evidenz, die die Wirksamkeit von Modellvorhaben belegt. Dabei sind die Studiendesigns sehr divers in ihren Zielkriterien, Datenquellen, methodischen Zugängen und Laufzeiten. Sie nähern sich auf unterschiedliche Weisen den bundesweit sehr heterogenen Umsetzungstypen und bieten dadurch vielfältige Einblicke in das Geschehen vor Ort. Durch ihre unterschiedlichen Zugänge bildet dabei jede Studie nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit ab. Erst in ihrem Zusammenspiel entsteht ein detailliertes Bild von den unterschiedlichen Effekten und Maßnahmen der Umstrukturierung, die durch die Umstellung zu einem GBB erreicht werden können.

Über alle Projekte hinweg ist deutlich geworden, dass die Planungssicherheit, die GBB mit sich bringen, zu einer deutlichen Qualitätssteigerung der psychiatrischen Versorgung führen kann [19]. Sie reduziert den Misstrauensaufwand, der sich durch eine Vergütungslogik auf Einzelleistungsbasis der Regelversorgung von Jahr zu Jahr zu verstärken scheinen. Es bleibt daher die Frage, was wir von diesen Erkenntnissen für die Weiterentwicklung der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung lernen können, eine Frage, die in diesem Themenheft aus unterschiedlichen Perspektiven der an der Versorgungssituation beteiligten Stakeholdergruppen aufgegriffen wird.

Auf der anderen Seite stehen eine Reihe von Unsicherheiten, die u. a. dazu führen, dass es in den letzten Jahren so gut wie zu keinen neuen Vertragsabschlüssen gekommen ist [19]: Die Einführung eines Modellvorhaben bzw. GBB ist kaum reversibel, weil sie eine umfassende Reorganisation von Arbeitsmodellen, Behandlungspfaden und nicht zuletzt baulichen Strukturen mit sich bringt. Vertragsabschlüsse mit nur einem Teil der Krankenkassen, d. h. selektivvertraglich vereinbarte GBB führen zu ressourcenintensiven Doppelsystemen, wobei ein vollständiger Konsens aller in einer Versorgungsregion vertretenen Kostenträgern zu einem Regionalbudget jahrelange Verhandlungsprozesse bedeuten kann. Weiterhin gibt es nur sehr undifferenzierte Regeln für die Nachverhandlungen eines Budgets bspw. bei einer veränderten Morbiditätslast, ähnlich dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich. Und auch die Nichtverlängerung einiger Modellverträge hat zu Verunsicherungen auf Seiten der Leistungserbringer geführt, auch weil sie nicht selten auf eine deutliche Ambulantisierung des Leistungsangebots folgten, was den Verdacht einer „Herunterschrumpfung“ von Betten mithilfe des § 64b genährt hat.

Durch die mit Bildung der Regierungskommission kürzlich angestoßene Krankenhausreform sind hingegen neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung zu erwarten [20]. Obgleich die grundsätzlichen Ziele dieser Reform – Stärkung der sektorübergreifenden Versorgung, Ambulantisierung, Vergütung mit wenig oder ohne Mengenbezug – der Logik der GBB entgegenkommen, ist unklar, wie sich ihre konkrete Umsetzung ausgestalten wird. Auch in diesem Zusammenhang zeichnen sich die Modellvorhaben durch ihren Modellcharakter aus: Die vielfältigen Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen der Setting- und in Einzelfällen auch sektorübergreifenden Kooperation verschiedener Akteure und Leistungserbringer, die sich in diesen Feldern in den letzten 20 Jahren entwickelt haben, sind wertvoll, um das Gesundheitssystem weg von einer kleinteiligen, leistungs- und mengenorientierten Vergütung in Richtung von mehr regionaler Verantwortung und Zusammenarbeiten umzugestalten.

Sebastian von Peter, Brandenburg, Peter Brieger, Harr, Julian Schwarz, Rüdersdorf



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
06. November 2023

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