Neonatologie Scan 2024; 13(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-2144-1676
Editorial

Die vorgeburtliche Kortisonspritze – vielleicht doch seltener notwendig?

Axel Hübler
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Roland Hentschel
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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die 3 Säulen der modernen Neonatologie, auf denen dieses Fachgebiet in den 1970er-Jahren begründet wurde, und womit es den Sprung nach vorne in eine wissenschaftlich fundierte medizinische Disziplin mit enormen klinischen Erfolgen geschafft hat, sind schnell aufgezählt: die antenatale Steroidprophylaxe, zufällig entdeckt von Liggins 1972 im Schafsexperiment, die rechtzeitige und adäquat dosierte Surfactanttherapie, erstmals beschrieben von Fujiwara 1980, und die angemessene – das heißt möglichst schonende – Beatmung mit CPAP, etabliert durch die Arbeiten von Gregory 1971.

Alle 3 Maßnahmen bilden mit gewissen Modifikationen auch heute noch das Fundament für eine niedrige Morbidität und Mortalität bei kleinen Frühgeborenen. Doch es lohnt sich manchmal, etablierte Praktiken kritisch zu hinterfragen.

Die antenatale Steroidprophylaxe wurde relativ früh – Ende der 1970er-Jahre – mit 2 soliden, randomisierten Humanstudien als wichtige Maßnahme für eine signifikante Verbesserung des RDS bei Frühgeborenen bestätigt: durch M. F. Block in Obstetrics and Gynecology 1977 und durch den griechisch-kanadischen Neonatologen Apostolos Papageorgiou in Pediatrics 1979. Beide Studien zusammen hatten weniger als 280 Studienpatienten. Papageorgiou beschrieb schon in dieser frühen Publikation eine der wesentlichen Nebenwirkungen der Kortisonspritze an die Mutter: die Hypoglykämie des Neugeborenen. Diese Nebenwirkung steht seither in allen neonatologischen Lehrbüchern.

Weitere mögliche Nebenwirkungen wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten beschrieben, von denen die vermutlich wichtigste das erhöhte Risiko für eine Zerebralparese und andere neurologische Folgeschäden ist, die zumindest nach mehr als einer Dosis als Risiko unbestreitbar sind.

In dieser Ausgabe von Neonatologie Scan berichten die Autoren Amrit et al. unter dem Titel „Hypertonie bei Neugeborenen – eine häufig übersehene Gefahr“ über ein zwar bekanntes, aber bisher wenig beachtetes höheres Risiko für eine arterielle Hypertonie im Neugeborenenalter nach postnataler, aber auch nach pränataler Steroidgabe. Wenngleich das Kollektiv ihrer Kohortenstudie sehr klein ist, und nur ein Patient hypertensiv über das Neugeborenenalter hinaus blieb, ist der Hinweis der Autoren, diese Patienten in jedem Fall hinsichtlich ihres Blutdrucks engmaschig weiter zu beobachten, unbedingt zu unterstreichen. Da es sich bei Patienten nach pränataler Steroidgabe fast ausnahmslos um Frühgeborene handelt, ist deren allgemein erhöhtes Risiko für einen arteriellen Hypertonus bereits im frühen Erwachsenenalter von zusätzlicher Bedeutung.

In einer weiteren Zusammenfassung wird die Arbeit von Raj-Derouin und Kollegen aus der Columbia-Universität in New York vorgestellt. Diese berichten über eine Kohortenstudie später Frühgeborener zwischen 34 SSW + 0 T und 36 SSW + 6 T von diabetischen Müttern und die Folgen eines Einsatzes der antenatalen Steroidprophylaxe. Dieser macht angesichts des bekannten relativen Surfactantmangels bei Neugeborenen diabetischer Mütter zunächst einmal Sinn. In der Studie lag nach Steroidprophylaxe aber sowohl die Rate behandlungsbedürftiger Hypoglykämien als auch die der Hyperbilirubinämien nahezu doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe. Dabei war ein positiver Effekt auf das Atemnotsyndrom selbst nach Adjustierung für verschiedene Einflussvariablen nicht nachweisbar.

Einen gewissen Widerspruch gibt es hier zur gemeinsamen Leitlinie der deutschsprachigen Länder (AWMF-Registernummer 015-025) von 2022. Unter Bezugnahme auf die ALPS-Studie wurde der Steroidprophylaxe für diese Patientengruppe eine gute Wirksamkeit für den Studienendpunkt „Notwendigkeit von CPAP oder HFNC“ bescheinigt. Eine Empfehlung wurde dennoch nicht ausgesprochen, da man noch auf Nachuntersuchungsdaten zum neurologischen Outcome warten wollte. Wenn sich die Daten von Raj-Derouin in einer größeren Studie bestätigen, dürfte sich dennoch – auch im Falle fehlender Nachteile in der Nachuntersuchung – eine Empfehlung für die Steroidgabe an diabetische Schwangere oberhalb von 34 SSW erübrigen.

Vielleicht gibt es noch weitere Subgruppen bisher routinemäßig behandelter Mütter, bei denen auf die zurzeit breite Anwendung der Kortisonspritze an die Schwangere verzichten werden kann.

Ihre Herausgeber
PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin,
Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg



Publication History

Article published online:
22 February 2024

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