Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2023; 55(03): 130
DOI: 10.1055/a-2159-2693
Forum – GfBK kommentiert
Gratz, Schwermann, Roser

Palliative Fallbesprechung etablieren – Ein Leitfaden für die Praxis

Zoom Image

Fallbesprechungen als Instrument, komplexe Situationen von Heimbewohner*innen und Patient*innen zu evaluieren, um multiperspektivisch komplexe Pflege- bzw. Behandlungsentwürfe zu entwickeln, gehören seit mehr als 30 Jahren zum zumindest theoretischen Standard in Heimen, Kliniken und im ambulanten pflegerischen und medizinischen Bereich. Unzweifelhaft bisher am besten etabliert sind ethische Fallbesprechungen.

Mit dem im Jahre 2015 verabschiedeten Hospiz- und Palliativgesetz (HPG) wurden auch Palliative Fallbesprechungen formal etabliert.

Das jetzt vorliegende handliche Werk vermittelt im ersten Teil in komprimierter Form einen umfassenden Überblick über bewährte Modelle ethisch-reflexiver Fallbesprechungen. Dabei wird es seinem selbst gestellten Anspruch gerecht, nicht nur praxisorientiert, sondern auch praxiserprobt zu sein. Die Autor*innen konnten sich dafür auf die Expertise zahlreicher multiprofessioneller Akteure stützen – tätig in einem der führenden Sozialdienstleistungsunternehmen in Deutschland, im Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule Münster sowie in unterschiedlichen Heimeinrichtungen.

Besonders erwähnenswert erscheint aus dem ersten Teil des Buches eine klar gegliederte tabellarische Gesamtübersicht der wichtigsten Modelle und Instrumente von Fallbesprechungen.

Ein weiteres Kapitel widmet sich einem hermeneutischen Fallverstehen – im Gegensatz zum reflexiven – und beleuchtet darin verschiedene Perspektiven von Hermeneutik. Wissenschaftstheoretisch geschulten Leser*innen eröffnen sich dabei interessante Perspektiven. Weniger auf diesem Gebiet versierte Rezipient*innen könnte indes eine gewisse Ratlosigkeit beschleichen, wenn sie lesen:

  • „Das klassisch-hermeneutische Paradigma, auch phänomenologisches Paradigma, interpretiert subjektiv beobachtete und erzählte Protokolle, die sich gegebenenfalls an einer Zeitachse orientieren.“

  • „Die Denkweise der quantitativ-empirischen Methoden verfolgt mit ihren Datensammlungen von Kohortenstudien eher Auswertungen mengenmäßiger Art.“

  • „Die objektive Hermeneutik als rekonstruktionslogisches Verfahren steht als drittes existierendes Paradigma chronologisch gleichrangig neben den vorher genannten Verfahren, ist aber nicht so bekannt.“

Die wesentlich neuen Aspekte im Modell der Palliativen Fallbesprechung bilden das Kernstück, das mit vielfältigen wertvollen Arbeitsmaterialien als Downloads zu moderierten Fallbesprechungen befähigen will. Dazu bedarf es einer klaren Struktur, die z. B. aus drei Schritten besteht:

  1. Einführung in die Situation des Betroffenen (Bewohner*in/Patient*in)

  2. Formulieren der Fragestellung

  3. Faktensammlung (im multiprofessionellen Team)

Neu ist das Total-Pain-Konzept als Strukturierungsgrundlage der Faktensammlung mit dem Effekt, die körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Dimensionen des Leidenden zu erfassen und darauf mit dem Total-Care-Konzept zu reagieren.

Und hier nun finden sich im Buch sehr klar formulierte, gut umsetzbare konzeptionelle Handlungsanweisungen mit entsprechendem Material, zur sofortigen Umsetzung in der Praxis.

Wichtig – zudem sehr gut lesbar und damit auch gut umsetzbar – sind die Ausführungen zum Grundverständnis, den Zielen und den Aufgaben der jeweils Moderierenden. Fallbesprechungen stehen und fallen durch die Qualität der Moderation. Scheinbar Banales ist für die Praxis entscheidend, dass nämlich Kernaufgabe der Moderierenden die Einhaltung der ohnehin knappen Zeit ist und – essentiell –, dass der gesamte Ablauf sowie die Systematik innerhalb der Faktensammlung eingehalten werden müssen.

Schließlich finden sich prägnante Fallbeispiele aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern.

Eine bis auf bedauerliche Ausreißer verständliche Sprache, gute Abbildungen, ein weiterführendes Literaturverzeichnis mit 89 Stellen sowie hilfreiche Arbeitsmaterialien werden dazu führen, dass das Buch seinen Weg in viele Einrichtungen der Hospiz- und Palliativarbeit sowie der Altenpflege finden wird.

Manfred Gaspar, Kiel



Publication History

Article published online:
25 September 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany