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DOI: 10.1055/a-2159-2904
Das Lebensende und ich – Anregungen für einen leichteren Umgang mit der Endlichkeit
Dieses Buch ist explizit kein Buch für Menschen nach oder in Verlustsituationen. Im Klappentext ist zu lesen: „Setzen wir uns doch einmal mit dem Lebensende auseinander. Ein bisschen so, wie man das vor einer Geburt ja auch tut.“ Auch wenn der Mensch sich nicht selbst gebiert, bewährt es sich, wenn Mutter und Vater sich auf den existenziellen Übergang ihres Kindes in diese Welt, die wir kennen, vorbereiten. Es bleibt die Frage: gibt es Trockenübungen, die das Sterben unterstützen? Ist Sterben gleichzusetzen mit dem, was das Lebensende umfasst. Folgerichtig leiten der Palliativmediziner Steffen Eychmüller und die Gesundheitskommunikationswissenschaftlerin Sibylle Felber ihr Anregungs-, Lese- und Arbeitsbuch „Das Lebensende und ich“ ein mit den Worten: „Das Lebensende ist so viel mehr als zu sterben“. So wie die Geburt ist auch das Lebensende sowohl Einzelschicksal als auch soziales Ereignis.
Die Überschrift ihrer Einführung ist programmatisch: „Es gibt kein Fundbüro für verpasste Chancen.“ Damit laden sie pointiert, heiter, nachdenklich und auch provozierend die Leser*innen ein, auf Gefühlswellen zu surfen, nüchterne Fakten zur Kenntnis zu nehmen, Bilder zu betrachten, philosophischen Gedanken nachzuhängen, Impulsen zu folgen sowie in Filme und Bücher einzutauchen. Steffen Eychmüller und Sibylle Felber lassen uns Lesende teilhaben an Erfahrungen, Gedanken und Überlegungen derer, „die wissen müssen, was es heißt am Lebensende zu sein“, „direkt“ und/oder „indirekt“ Betroffene, seien es Kranke, Angehörige oder Begleitende, wie die Autor*innen als Fachkräfte in diesem Feld.
Steffen Eychmüller und Sibylle Felber hätten es möglicherweise gern, wenn wir nahezu „vor Neugier sterben“, wenn wir ihr Buch in Händen halten, welches durch Andrew Anastasios Buch mit dem so wunderbar doppeldeutigen Titel: „Dying to Know“ angeregt wurde. Nichtsdestotrotz legen die Autor*innen mit ihrer Lesart und eigenen Offenheit für Menschen ein unverwechselbares Buch vor, welches einen erfrischend schweizerischen Charakter hat: Infragestellen erwünscht.
Die Autor*innen lassen die Lesenden dennoch nicht allein, sondern beantworten Fragen, auf die es verlässliche Antworten gibt, teils konkret, teils mit Hinweisen zu vertiefenden Informationen und seriösen Quellen. „Was kann man der Angst vor dem Leiden entgegensetzen? Lassen sich das Lebensende und der Moment des Todes vorhersagen? Welche Energiequellen stehen einem für die vielen Herausforderungen zur Verfügung? Welche Bücher, Filme, Websites helfen einem weiter oder ermöglichen einen Zugang zu diesem schweren Thema? Gibt es «falsche» Trauerformen, und wieso sollte man Beerdigungen besuchen?“ Vertraut mit dem Lebensende anderer stellen sie die Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt: „Warum nur haben wir solche Angst vor dem Sterben, wo es doch Milliarden vor uns auch schon getan haben?“.
Søren Kierkegaard formulierte treffend die durch Zeitlichkeit bedingte Herausforderung unseres Lebens: „Verstehen kann man das Leben rückwärts, doch leben muss man es vorwärts.“ Ich verstehe die unterschiedlichen Annäherungen und Ermutigungen dieses Buches folgendermaßen: Es könnte eine besondere Erfahrung sein, sich imaginativ dem (eigenen) Lebensende zu nähern, dann umzudrehen, sich neben das Lebensende zu stellen und so auf das (eigene) Leben zu blicken. Unser „normaler“ Blick richtet sich ja eher auf Endlichkeit und Tod. Dieser Wechsel der Blickrichtung lässt uns das (eigene) Leben anders betrachten mit vielleicht ungeahnten An-, Ein- und Aussichten für das Leben, welche dann möglicherweise unseren Umgang mit dem Lebensende erleichtern könnten. Sei es, dass wir uns sowohl weniger vor dem Tod der anderen fürchten als auch persönlich weniger Todesangst erleben würden.
Schon haptisch ist „Das Lebensende und ich“ ein ungewöhnliches Buch. Die Seiten sind fester und dicker als in einem Lesebuch. Die klare Gliederung erfolgt sowohl mit unterschiedlichen Schriftgrößen als auch Farben. Der Wechsel in der Thematik mit Leitfragen zeigt sich in einer geänderten Laufrichtung der Schrift. Quellen, weiterführende Medien wie Buch, Film, Podcast, Artikel sind goldgelb gedruckt, Zitate grundsätzlich fett hervorgehoben. Jedes der drei großen Kapitel ist durch eine violette Seite gekennzeichnet, auf der die jeweils behandelte zentrale Frage zu finden ist. Untertitel sind violett gedruckt. Steffen Eychmüller und Sibylle Felber nähern sich dem Thema zunächst eher allgemein. Im ersten Kapitel geht es um die Frage: „Warum haben wir solche Angst vor dem Sterben“. Das zweite Kapitel umkreist die Frage: „Was kommt am Lebensende auf mich zu?“ Das Buch mündet in das dritte abschließende Kapitel, in dem es um unsere persönlichen Ressourcen geht: „Was kann ich selbst gegen die Angst tun?“
Die Autor*innen entlarven verbreitete Narrative. Gemäß des Mottos: „Es gibt wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen“ verdichten sich die Texte. Es geht ans „Eingemachte“. Das Buch hat einen eigenen Rhythmus. Sparsamer Text auf jeder Seite verlangsamt das Lesen. Die Lesenden werden ermutigt, sich Zeit zu nehmen, das Buch im eigenen Tempo und mit der eigenen Systematik zu nutzen. Es ist möglich, das Buch seitenweise durchzugehen, von Seite zu Seite zu springen, von hinten nach vorne oder von vorne nach hinten. Egal wie, wir Lesenden sind eingeladen, innezuhalten, eigenen Gedanken nachzuhängen oder aber auch das Buch beiseite zu legen, auf die eigene Verfasstheit zu achten. Für das Festhalten der eigenen Gedanken hat das Buch farbig hervorgehobene Seiten. So wird auch in der Struktur des Buches deutlich, dass es Steffen Eychmüller und Sibylle Felber ein wirkliches Anliegen ist, dass dieses Buch sowohl fortgeschrieben als auch individualisiert werden soll. Das Buch soll in Dialoge münden. Vom Sterben für das Leben lernen bleibt eine zentrale Idee und folgt der Erkenntnis von Irvin D. Yalom in seinem Buch „Existenzielle Psychotherapie“: „Die Gegenwart, nicht die Zukunft ist der zeitliche Modus der Ewigkeit.
Bernadette Fittkau-Tönnesmann, München
Publication History
Article published online:
25 September 2023
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