Nervenheilkunde 2024; 43(01/02): 41-48
DOI: 10.1055/a-2180-6482
Übersichtsarbeit

Die Differenzierung der Freiverantwortlichkeit aus der Sicht der Suizidassistenz

Differentiation of free volitional competence in the context of assisted suicide
Johann F. Spittler
1   Medizinische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum
› Author Affiliations

ZUSAMMENFASSUNG

Nach Antrag auf Beihilfe zu einem Suizid wurden 688 Menschen ärztlich-psychiatrisch zu ihrer Freiverantwortlichkeit untersucht. Für die Einsichts- und Urteilsfähigkeit, die innere Festigkeit bzw. Dauerhaftigkeit, die Mängelfreiheit der Willensbildung und die Wohlerwogenheit wurden Kriterien entwickelt. Das mittlere Alter betrug 67,3 Jahre (Spanne 20–108), der Anteil der Frauen 65,1 %, der Männer 34,7 %, divers 0,1 %. Unter den Diagnosen fanden sich – maßgeblich und teilmaßgeblich jeweils insgesamt – körperliche Krankheiten in 75,3 %, psychische Störungen in 27,3 % und die (höhere) Altersperspektive in 34,0 %. Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit wurde in 64,0 % als abgewogen rational und in 32,4 % als körperlich oder psychisch begründet nüchtern realistisch beurteilt.

Unter dem rechtlich geforderten Aspekt der Mängelfreiheit wurde eine „Beeinflussung” der Willensbildung u. a. durch körperliches oder psychisches Beschwerdeerleben von einer „Beeinträchtigung” der Willensbildung unterschieden. Vorwiegend bei letzterer muss die Nachdrücklichkeit und Eindeutigkeit der Willensbekundung im Verhältnis zu dem Grad der Beeinträchtigung abgewogen werden. Im Verlauf wurde von 54,9 % der Begutachteten eine Suizidhilfe in Anspruch genommen.

ABSTRACT

In German law and jurisdiction assisted suicide is permitted provided that volitional competence can be proven. It is defined as capacity of insight, ability to judge, assurance of intention, and the decision being free of fault. The general discussion of assisted suicide is dominated by speculations. Therefore, it is necessary to provide empirical results. The author completed 688 in depth psychiatric examinations of requests for suicide assistance. Mean age was 67,3 years (span 20–108). 65,1 % were women, 34,7 % were men, 0,1 % identified as trans-gender. Combining main and secondary reasons there were somatic illnesses in 75,3 %, psychiatric disturbances in 27,3 %, and advanced age in 34,0 % of cases. Capacity of insight and judgement were found to be well considered and rational in 64,0 %, and somatically or psychiatrically influenced and at the same time realistic in 32,4 % of all cases.

Potential faults of the intention were differentiated between “influenced” or “impaired”. In the latter case it is necessary to balance the impairment of the intention with the right of self-determination. Based on the assessment 54,9 % requested and were given assistance.



Publication History

Article published online:
19 February 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Bundesgerichtshof, Die durch einen Selbstmordversuch herbeigeführte Gefahrenlage ist ein Unglücksfall im Sinne des § 330 c StGB. 1954 (AZ: GSSt 4/53)
  • 2 Bundesgerichtshof, Teilnahme am Suizid. 1984 (AZ: BGHSt 32, 367)
  • 3 Bundesgerichtshof, Leipzig. 2019 (AZ: 5 STR 132/18) und (AZ: 5 StR 393/18)
  • 4 Bundesverfassungsgericht, 2020 (AZ: 2 BvR 2347/15, 2 BvR 651/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 2354/16, 2 BvR 2527/16)
  • 5 Eser A. Sterbewille und ärztliche Verantwortung – Zugleich Stellungnahme zum Urteil des BGH im Fall Dr. Wittig. MedR 1985; 03: 6-17
  • 6 Henking T. Suizid und Suizidbeihilfe aus rechtlicher und ethischer Perspektive. Bundesgesundheitsblatt 2022; 65: 67-73
  • 7 ISOPUBLIC/GALLUP international (2012): Sterbehilfe in den Augen der Europäer.. http://www.medizinalrecht.org/?p=61 (Zugriff 19.09.2023)
  • 8 Lewitzka U. Suizidprävention im Kontext des assistierten Suizids. Nervenarzt 2022; 93: 1112-24
  • 9 Saß JH, Cording C. Zur Freiverantwortlichkeit der Entscheidung für einen assistierten Suizid. Nervenarzt 2022; 93: 1150-55
  • 10 Schildmann J, Dahmen B, Vollmann J.. Ärztliche Handlungspraxis am Lebensende – Ergebnisse einer Querschnittsumfrage unter Ärzten in Deutschland. Dtsch Med Wochenschr. 2015 DOI: 10.1055/s-0034-1387410
  • 11 Spittler JF. Suizidverhütung und Suizidbeihilfe – Unterschiedliche Erfahrungsbereiche. Nervenheilkunde 2017; 36: 416-422
  • 12 Spittler JF. Die Freiheit der Suizid-Hilfe – wie handeln?. Vorgänge – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 2020; 229 01: 93-100
  • 13 Spittler JF. Freiverantwortlichkeit sub specie suicidii – Eine neuropsychiatrische Betrachtung. AufklärungKritik 2020; 03: 25-33
  • 14 Spittler JF. Mangelfreiheit eines freiverantwortlichen Suizidhilfe-Ersuchens – eine Betrachtung des juristischen Begriffs aus ärztlicher Sicht. medstra 2021; 07: 89-93
  • 15 Spittler JF. Suizidhilfe und die letzten Stunden im Leben eines Menschen vor einer Lebensbeendigung. MedR 2020; 38: 908-911
  • 16 Wassiliwizky M. et al Der assistierte Suizid – Einstellungen und Erfahrungen der Mitglieder der DGPPN. Nervenarzt 2022; 93: 1134-42