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DOI: 10.1055/a-2192-1298
Beziehungswelten heute
Warum früher vielleicht doch nicht alles besser war
Jetzt haben Sie ein ganzes Heft „hinter sich“, das sich mit Veränderungen befasst – oder vielleicht genauer: mit der Wahrnehmung von Veränderungen. Dabei mag manches fremd wirken (etwa das Online-Dating) oder auch bedrohlich (z. B. wenn es um Folgen von Zwangsmigration geht) und vieles so, dass der Eindruck entstehen könnte, diese Themen hätte es vor Jahren noch nicht gegeben.
Nichts ist in der Lage, Menschen so zu beschäftigen, wie die Beziehungen zu anderen Menschen. Wir kennen die positive Kraft von unterstützenden Beziehungen und die destruktive Macht dysfunktionaler zwischenmenschlicher Konflikte seit es uns Menschen gibt. Hinzu treten nun technische Möglichkeiten, die das eine wie das andere unterstützen können und zusätzlich noch eigene Herausforderungen mit sich bringen. Schnell kann sich ein Gefühl von Überforderung entwickeln und den Wunsch nach mehr Kontrolle nach sich ziehen. Sätze, die darauf abheben, dass „früher alles besser“ gewesen sei, drängen sich ebenso rasch auf. Dies bedarf jedoch der genaueren Betrachtung: Was meint „früher“? Und was fangen wir mit der Generalisierung an?
Wir waren einmal froh, mit Patient*innen in komplexen und als sehr einengend erlebten familiären Zusammenhängen Individuation bearbeiten zu können. Heute arbeiten viele von uns daran, wieder ein Mehr an Gruppenerfahrung erlernbar zu machen, inklusive all der Dinge, die Teil von Solidarität sind: Für andere Menschen da zu sein, sich angenommen zu fühlen in einer Gruppe, von anderen, denen mensch sich zugehörig fühlt – in der Hoffnung, dabei nicht von einer „Ringecke“ in die andere zu fallen. Es könnte also darum gehen, die individuumszentrierten Aspekte und die soziale Kompetenz miteinander in „Beziehung“ zu setzen. Wieder einmal ginge es dabei um ein „Sowohl-als-auch“ und ein angemessenes „Einmal so“ und vielleicht, bei anderer Gelegenheit, „Diesmal anders“. Dies ist in komplexen gesellschaftlichen Strukturen mit mehr Vielfalt und herausfordernden persönlichen Lebensformen wie Patchwork-, multikulturellen und mobilen Familien eine große Aufgabe.
Das Besondere ist, dass wir uns dieser Aufgabe durch eine Verkürzung und Reduktion nur scheinbar entziehen können: Heute ist es möglich, einen Kontakt nur dadurch zu beenden, dass mithilfe einer einfachen Eingabe in einem Smartphone dieser „blockiert“ ist. Das Umgehen mit diesem Kontaktabbruch ist emotional dennoch nicht grundsätzlich etwas anderes als die Entscheidung, z. B. Einladungen nicht mehr zu folgen und Telefonanrufe nicht mehr anzunehmen. Obwohl mehr Fremdheit und mehr Komplexität möglicherweise als schwere Aufgabe erlebt wird, sind Rückzug auf das eigene Heimaterleben und Texte, die in drei Minuten gelesen werden können, nur eine kurzfristige Entlastung – so, wie in der Verhaltenstherapie, ganz technisch, eine kurzfristige Entlastung mittel- und langfristig zum Problem werden kann. Kein Zufall ist, dass dies das klassische Thema von Angsterkrankungen ist.
Beziehungswelten sind aktuell in ihrer Vielfalt andere als vor Jahrzehnten. Sie müssen in ihrer heutigen Komplexität neu gelernt werden und sind dennoch im Detail nicht anders als die Beziehungen, die wir im Rahmen von Psychotherapien schon ganz lange bearbeiten: Konflikte zwischen Menschen, die um Autonomie und Nähe ringen. Die Gestalt dieser Konflikte ist allerdings bunter geworden, und die Mittel, mit denen wir ihnen begegnen können auch.
Wir hoffen, dass wir Ihnen mit diesem Heft diese Farbpalette näherbringen konnten und Sie und Ihre Klient*innen sich mit Neugier ihren Facetten nähern.
Bettina Wilms
Claudia Dahm-Mory
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
22. August 2024
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