Dtsch Med Wochenschr 2024; 149(13): 750-751
DOI: 10.1055/a-2215-6569
Aktuell publiziert

Kommentar zu „Amitriptylin in niedriger Dosis wirksam bei Reizdarmsyndrom“

Contributor(s):
Viola Andresen

Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist charakterisiert durch chronische Bauchbeschwerden, insbesondere Bauchschmerzen, Bauchkrämpfe, Blähungen und Stuhlgangsveränderungen. Je nach vorherrschendem Stuhl-Typ unterscheidet man die Subtypen RDS-Diarrhoe, RDS-Obstipation oder RDS-Mischtyp. Die Pathophysiologie des RDS ist noch nicht vollständig aufgeklärt, aber verschiedene Störungen wurden als beteiligte Mechanismen identifiziert, u.a. Störungen im enterischen Nervensystem und in der Darm-Gehirn-Achse sowie Veränderungen des Mikrobioms, der Darm-Barriere und des Darm-Immunsystems. Bislang gibt es keine spezifischen Biomarker und keine kurative Therapie. Die Behandlungsansätze sind vielfältig und können im Sinne eines multimodalen Konzeptes kombiniert werden. Basis sind oft Allgemeinmaßnahmen wie Ernährungsanpassungen und Ballaststoffe (z.B. Flohsamen), Entspannungsübungen und Meiden individueller Symptom-Auslöser/-Verstärker. Auch Probiotika zur Mikrobiom-Modulation werden oft frühzeitig eingesetzt. Medikamentöse Behandlungsansätze sind in der Regel symptomorientiert und beinhalten als First-Line-Strategie z.B. Spasmolytika wie Pfefferminzöl, Buscopan oder Mebeverin gegen Bauchschmerzen, Laxantien, bevorzugt Macrogol, gegen Verstopfung und Loperamid gegen Diarrhoe. Sind diese Behandlungen nicht ausreichend effektiv, kommen Second--Line-Therapien zum Einsatz. Hier unterscheiden sich die Behandlungsleitlinien verschiedener Länder. In England wird von der nationalen Gesundheitsbehörde NICE (National Institute for Health and Care Excellence) als nächstes der Einsatz niedrig dosierter trizyklischer Antidepressiva (z.B. Amitriptylin) empfohlen. Allerdings haben Studien gezeigt, dass diese Empfehlung nur von einem sehr geringen Anteil der Hausärzte umgesetzt wird. Umfragen ergaben als Grund hauptsächlich Zweifel an der Wirksamkeit trizyklischer Antidepressiva gegen das Reizdarmsyndrom – und weniger mögliche Bedenken wegen der Nebenwirkungen.

Nach kritischer Durchsicht der hier vorliegenden ATLANTIS-Studie gibt es eine Reihe von positiven Bewertungen: Die Studie adressiert eine sehr wichtige Fragestellung, konnte eine recht große Teilnehmerzahl einschließen und wurde methodisch sehr sorgfältig gemacht. Besonders hervorzuheben ist der Plan einer individuellen Dosis-Titration. In den meisten Studien können getestete Substanzen nicht ihre optimale, individuelle Dosis-Wirkungs-Beziehung erreichen, sodass zum Beispiel mangelnde Wirksamkeit bei individueller Unterdosierung oder erhöhte Unverträglichkeit bei individueller Überdosierung die Folge sind. Für diese Studie wurde sogar ein individueller Medikationstitrationsplan entworfen, der auch für die weitere Anwendung im klinischen Alltag sehr wertvoll sein kann.

Als negativ bei dieser Studie ist zu bewerten, dass der gemessene Therapievorteil zwar statistisch signifikant, aber eher geringfügig klinisch relevant ist. Der IBS-SSS-Score erreicht im Maximum (=allerhöchste Symptomlast) einen Wert von 500 Punkten. Unter Amitriptylin sank der Score nach 6 Monaten zwar um 99,2 Punkte, aber in der Placebo-Gruppe auch um 68,9 Punkte. Der Unterschied ist somit nur gering. Im Mittel hatten die RDS-Patienten in der Amitriptylin-Gruppe nach 6 Monaten zudem immer noch einen Gesamt-IBS-SSS-Score von 170 Punkten und waren somit immer noch an der Grenze zu einem mittelschweren RDS (≥ 175). Besonders überraschend erscheint auch die Strategie von NICE und somit auch in dieser Studie, Reizdarm-Patienten jeglichen Subtyps mit Amitriptylin zu behandeln, einer Substanz, die bekanntermaßen Obstipation als typische Nebenwirkung hat und somit für den Obstipations-RDS-Typ primär ungeeignet erscheint. Das spiegelt sich auch in den erhöhten Obstipationsraten wider. Explorative Analysen, auf die lediglich in der Diskussion der Studie eingegangen wird, zeigen, dass ein Haupteffekt bei der IBS-SSS-Verbesserung durch Amitriptylin in einer Abnahme der Bauchschmerzen liegt.

Hierzu passt dann das Vorgehen der Deutschen Leitlinie, nach der niedrig dosiertes Amitriptylin vor allem dann empfohlen wird, wenn Bauchschmerzen im Vordergrund stehen und keine Obstipation vorliegt. In weiterer Abweichung erfolgt nach der Deutschen Leitlinie die Wahl des Therapeutikums auch in der Second-Line-Therapie primär symptomorientiert, wie z.B. Amitriptylin für Bauchschmerzen, aber eben auch Prucaloprid oder Linaclotid für Obstipation oder Colestyramin und Ondansetron für Diarrhoe. Da aber auch hierzulande oft große Zurückhaltung besteht, Amitriptylin für die Reizdarm-Indikation zu verschreiben, können die Ergebnisse dieser Studie in jedem Fall dazu beitragen, besonders bei refraktären Bauchschmerzen Amitriptylin als Therapie-Option aufzuwerten und deutlich früher und häufiger einzusetzen, denn noch immer sind viele RDS-Patienten nicht befriedigend symptomgelindert.



Publication History

Article published online:
11 June 2024

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