Z Sex Forsch 2024; 37(01): 41-42
DOI: 10.1055/a-2218-8348
Bericht

Von Dickpics bis zum Sexroboter

Tagungsbericht zur 49. Konferenz der International Academy of Sex Research
Tanja Oschatz
1   Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
,
Jeanne C. Desbuleux
2   Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Vom 7. bis 10. August 2023 lud die International Academy of Sex Research (IASR) zum 49. Mal zur jährlichen Konferenz nach Montréal ein. Ziel dieser Tagung ist es, Forscher*innen unterschiedlicher Disziplinen in den Austausch zu bringen und sowohl inhaltlich als auch methodisch verschiedenste Facetten der Sexualforschung zu beleuchten. Das Programm der Konferenz bot eine breite Palette von über 50 Vorträgen und mehr als 100 Posterpräsentationen. Anders als viele andere Forschungskonferenzen ist die der IASR plenar organisiert, was den Vorteil bietet, dass alle Teilnehmer*innen die Möglichkeit haben, sämtliche Vorträge zu verfolgen und keine Informationen zu verpassen. Allerdings hat diese Organisationsform auch zur Folge, dass seltener kleine Diskussionsrunden entstehen.

Vor dem offiziellen Beginn der Konferenz fand ein Pre-Conference Workshop zum Thema „Integration von Open Science Standards in die Sexualforschung“ statt. Dabei fiel auf, dass viele Maßnahmen, die in anderen psychologischen Disziplinen längst etabliert sind – wie beispielsweise Prä-Registrierungen, ethische Begutachtung von Forschungsvorhaben sowie Veröffentlichung von Forschungsdatensätzen und Skripten – in großen Teilen der Sexualforschung noch unzureichend umgesetzt werden. Bezüglich aktueller Debatten (z. B. Rückzug des Papers von Diaz und Bailey 2023 aus „Archives of Sexual Behavior“) betonte der Vortragende Gabriel Pelletier (Open Science Data Manager am Tannenbaum Open Science Institut, Montréal) noch einmal die Notwendigkeit von ethischen Richtlinien, wie beispielsweise die Einwilligung von Proband*innen bei der Verarbeitung ihrer Daten in wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Dies verdeutlicht, dass es in der Sexualforschung noch Raum für Verbesserungen gibt, um die offene und transparente Forschungspraxis zu fördern.

Meredith Chivers (Queen’s University Canada, Kingston), die diesjährige Präsidentin der IASR, hielt am ersten Tag der Konferenz einen beeindruckenden Vortrag zum Thema „Embodiment und Sexual Response“. Sie gab zunächst einen ausführlichen Überblick über vergangene Forschung zu sexuellen bzw. genitalen Reaktionsmustern. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeichnen ein klares Bild: Sowohl Frauen, die sich sexuell zu Männern hingezogen fühlen, als auch Frauen, die sich sexuell zu Frauen hingezogen fühlen, zeigen im Unterschied zu Männern geschlechtsunspezifische Muster in ihrer genitalen Reaktion. Das bedeutet, dass sie ähnlich auf verschiedene sexuelle Stimuli reagieren, unabhängig davon, ob diese ihrem bevorzugten Geschlecht entsprechen. Chivers betonte dabei wiederholt die Bedeutung der Einbeziehung queerer Proband*innen in ihre Forschung, um biologistischen Argumenten entgegenzuwirken. Sie präsentierte zudem neue Ideen zur Erklärung dieser Reaktionsmuster, die sich insbesondere um das Konzept des erwarteten sexuellen Genusses (pleasure) drehten.

Die Sexualforscherin Sari van Anders (Queen’s University Canada, Kingston) und der Schriftsteller und Politikwissenschaftler Paisley Currah (City University of New York) gestalteten zusammen ein mitreißendes Symposium zum Thema „Defining Sex and Gender“. In seinem Vortrag beleuchtete Currah auf humorvolle Weise die verwirrenden und im Verborgenen liegenden Logiken, die die Politik verschiedenster Institutionen in den Vereinigten Staaten bei der Geschlechtsklassifizierung von Trans*-Personen lenken. Van Anders erläuterte ihr anregendes Verständnis von Biologie und Körperlichkeit im Rahmen von Forschung – mit dem Ziel, Geschlecht (sex) neu zu denken und zu definieren. Hierbei betonte sie einen integrativen Ansatz, der die Biologie zwar als Erklärungsmodell mit einbezieht, ohne jedoch Forschungsergebnisse als biologistisch und somit deterministisch zu interpretieren. Besonders gefiel hierbei die Idee, auch gender expression equipment (also bspw. packer) als biologische/körperliche Komponenten zu betrachten. Als Fazit können wir die Idee mitnehmen, dass unser Körper zwar auf die Umgebung wirkt, die Umgebung aber ebenfalls Einfluss auf unseren Körper nehmen kann. Dieser Ansatz könnte dazu inspirieren, Variablen mit einzubeziehen, die bislang vielleicht im Verborgenen geblieben sind.

Amanda Gesselman (Kinsey Institute, University of Indiana, Bloomington) führte uns durch das Symposium „The Intersection of Sex and Technology“. Sie selbst stellte eine aktuelle Forschung vor, bei der das Online-Sexualverhalten durch die Nutzung neuer digitaler Sexualtechnologien untersucht wurde. Und tatsächlich: SexTech ist für Menschen mit psychischen Problemen attraktiv, um, so die Idee, die Symptome durch Ablenkung oder Selbstberuhigung zu lindern. Einen weiteren spannenden Vortrag zum Thema neue Technologien hielt Simon Dubé (Kinsey Institute, University of Indiana, Bloomington), der sich mit dem Wunsch der sexuellen Interaktion mit Robotern beschäftigt. Dieser wird, so zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Studie, insbesondere bei Männern größer, je höher die generelle sexuelle Erregung ist.

Ein weiteres Symposium, geleitet von Lori Brotto (University of British Columbia, Vancouver), stand unter dem Titel „Innovative Findings in the Study of Birth Order and Sexual Orientation“. Dieser evolutionspsychologische Ansatz, der das Ziel hat, Erklärungen für die Vererbung von Homosexualität sowie neuerdings auch von Bisexualität oder Asexualität zu finden, stellt eines der traditionsreichsten Forschungsfelder der Sexualwissenschaft dar und wird seit über 50 Jahren intensiv erforscht. Michel Raymond (Université de Montpellier) illustrierte in einem methodisch äußerst anspruchsvollen Beitrag, der zweifellos alle Statistik-Enthusiast*innen begeisterte, die mathematischen Herausforderungen dieses Forschungsfeldes. Dabei wurden auch die häufig auftretenden methodischen Verwechslungen zwischen dem sogenannten fraternal-birth-order effect (wonach homosexuelle Männer tendenziell mehr ältere Brüder haben) und dem female-fecundity effect (wonach Mütter homosexueller Männer tendenziell mehr Kinder haben) beleuchtet. Die Forschungsergebnisse von Jan Kabatek (University of Melbourne) stellten beide Effekte infrage. Sie ließen vorläufig darauf schließen, dass sowohl homo- als auch bisexuelle Menschen tendenziell häufiger ältere Geschwister haben, wobei das Geschlecht dieser Geschwister keinen Einfluss zu haben scheint. Zudem zeigte sich kein Zusammenhang zwischen Familiengröße und sexueller Orientierung. Ähnliche Ergebnisse wurden von Bozena Zdaniuk (University of British Columbia, Vancouver) berichtet, die diese Forschung auch auf asexuelle Menschen ausweitete. Nach den spannenden Vorträgen entstand eine eingehende und in Teilen kritische Diskussion mit dem Publikum über den Nutzen und die Zukunftsperspektiven dieses Forschungsfeldes.

Das Symposium „The Neurobiology of Orgasm and Sexual Pleasure“, geleitet von Jim Pfaus (Charles University Prague), hielt, was es versprach: Die Sexualforschung präsentierte sich als Forschungsfeld, das neben soziologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung auch (neuro-)biologische Ansätze verfolgt. Nan Wise (Rutgers University, Newark) präsentierte eine fMRT-Studie, in der er die Gehirnaktivität während sexueller Stimulation sowie während des Orgasmus bei heterosexuellen Frauen untersuchte. Die Ergebnisse, so Wise, könnten bei der Behandlung von Anorgasmie in der Zukunft eine Rolle spielen. Nicole Prause (University of California, Los Angeles) sprach über die peri-orgasmische Phase (eine Phase kurz vor dem eigentlichen Orgasmus) und die damit zusammenhängenden physiologischen Veränderungen. Die Notwendigkeit der Zurschaustellung von Tierexperimenten mittels eines Videos in einem weiteren Vortrag des Symposiums lässt sich allerdings kritisch diskutieren und führte bei einigen Menschen im Raum sichtbar zu Verstimmung oder sogar Ekel. Lauschte man im Nachgang den Gesprächen auf dem Flur, so drehten sich diese eher um die Frage, wieso man solche Forschung überhaupt macht, bzw. um die Notwendigkeit der öffentlichen Darstellung als um die Ergebnisse selbst.

Außerhalb der großen Symposien gab es unterschiedliche Kurzvortragsformate, bei denen Forscher*innen prägnant und präzise ihre Inhalte und Ergebnisse vorstellen konnten. Die Themen dieser Präsentationen waren weit gestreut und bewegten sich von der Prävalenz von Würgeverhalten (choking) über die Motivationsfaktoren hinter dem Verschicken von Dickpics bis hin zur Frage, ob Virtual Reality zur Behandlung von Vaginismus eine wichtige Rolle spielen kann. Schade war auch hierbei allerdings, dass die Möglichkeit zur Diskussion hinter der Menge an Vorträgen zurückstehen musste. Dennoch: Die Bandbreite der Themen verdeutlichte auf anschauliche Weise, in wie vielen Bereichen unseres Lebens Sexualität eine Rolle spielen kann und auch, welch wichtige Rolle die Sexualforschung hierbei einnehmen kann.

Die Posterpräsentation fand zu zwei Terminen statt, einmal während des Lunchs und einmal zur Cocktail Hour. Dass auch während der Posterpräsentationen keine anderen Veranstaltungen stattfanden, war insbesondere für junge Forscher*innen toll, da sich durchweg viele interessierte Menschen im Raum befanden. Die Posterpräsentation stellte somit eine der lebhaftesten Veranstaltungen der Konferenz dar, bei der sich längere inhaltliche Diskussionen ergeben konnten. Auch war die Anwesenheit vieler älterer und erfolgreicher Personen sicherlich eine Wertschätzung für die jungen Forscher*innen. Die Auswahl der unterschiedlichen Themen war zudem breit und inspirierend, die Qualität der Poster durchweg gut.

Abschließend möchten wir uns bei den Veranstalter*innen der Konferenz sowie bei unseren Stiftungen für die Ermöglichung der Konferenz(-teilnahme) bedanken. Für uns beide, die mitten in der Promotion stecken und das erste Mal an einer internationalen Konferenz teilgenommen haben, war es eine vielseitige und wichtige Erfahrung. Dass die Konferenzen der IASR in großen Städten stattfinden, hat natürlich den Vorteil, dass man eine Menge erleben kann. In Montréal fanden zum Zeitpunkt der Konferenz viele Veranstaltungen im Rahmen des Pride Month statt, es gab thematisch passende Ausstellungen und viel zu sehen. Gleichzeitig war der Veranstaltungsort (Sofitel Hotel Montréal) sehr teuer, sodass viele junge Wissenschaftler*innen weite Anreisewege in Kauf nehmen mussten. Auch war der internationale Austausch sehr eingeschränkt, da die Teilnehmer*innen primär aus Nordamerika (vor allem Kanada) stammten. Hinsichtlich neuer Impulse zur Forschung nehmen wir aus dem Aufenthalt mit, dass es merklich an longitudinalen Studien mangelt. Auch die experimentelle Sexualforschung findet nur an wenigen Instituten statt. Auch wenn beides sicherlich nachvollziehbare Gründe hat, würden wir alle bestimmt davon profitieren, wenn sich mehr Menschen trauen würden, methodisch komplexere Ideen umzusetzen. Wir freuen uns sehr, dass die nächste IASR-Konferenz in Berlin stattfinden wird, und sind gespannt, welche spannenden Themen dort vertreten sein werden.



Publication History

Article published online:
20 December 2023

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