physioscience 2024; 20(01): 38-40
DOI: 10.1055/a-2238-2211
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Ökologische Körper und relationale Anatomien: Auf dem Weg zu einer transversalen Grundlage für die planetare Gesundheitserziehung

Ecological Bodies and Relational Anatomies: Toward a Transversal Foundation for Planetary Health EducationContributor(s):
Katharina Bopp

Zusammenfassung

Hintergrund

Die Lehrpläne in der Physiotherapie fokussieren auf die westliche Naturwissenschaft und Medizin, die den Menschen gesondert von seiner sozialen Umwelt und dem planetaren Ökosystems betrachtet [1]. Diese Sichtweise steht allerdings im direkten Widerspruch zu traditionellen und indigenen Verständnissen sowie modernen Entwicklungen, die die Zusammenhänge zwischen planetarer und menschlicher Gesundheit anerkennen, was zudem in der UN-Agenda 2030 und ihren Nachhaltigkeitszielen bereits verankert wurde [2] [3] [4] [5] [6]: Infolge dieser ist es notwendig, Gesundheit, Umwelt und Gesellschaft als miteinander verwoben zu betrachten. Dementsprechend gilt es, deren Zusammenspiel übergreifend in die Ausbildung von Physiotherapeut*innen zu implementieren.


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Ziel

Mit dem Ziel, planetare Gesundheit weltweit übergreifend zu fördern, untersuchten Richter und Maric in ihrer Studie, wo das Thema im Unterricht angehender Physiotherapeut*innen am besten verankert werden kann. Besonders hervorgehoben wird dabei die Wichtigkeit der transversalen Einbindung sowie die Komplexität des Themas mit seinem sozialen, ökonomischen und ökologischen Zusammenhang zur Gesundheit [7].


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Methode

Die Forschenden gingen in 3 aufeinanderfolgenden Schritten vor:

  1. Sequenzanalyse von Rahmenwerken, die weltweit sowie in Norwegen und Deutschland die Inhalte der Physiotherapieausbildung und des Studiums regeln, zur Identifikation des bisherigen Gebrauchs der Konzepte Nachhaltigkeit, Ökologie und Umwelt und um Anknüpfpunkte ausfindig zu machen. Daraufhin wurde eine quantitative Analyse mithilfe einer Farbkodierung durchgeführt, gefolgt von einer Interpretation unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes der Konzepte. Ein Forschender führte die erste Farbkodierung durch, die Validierung erfolgte durch den zweiten Forschenden. Bei mangelnder Einigung wurde bis zur Konsensfindung diskutiert.

  2. Durch eine explorative Implementierung wurden die Konzepte Ökologische Körper und Relationale Anatomien für die Module Anatomie und Physiologie erarbeitet und in relevante Unterrichtselemente eingebettet. Dabei wird die Auswahl der Konzepte anhand der Lehren moderner Ökophilosophien und des Posthumanismus begründet [8].

  3. Die erstellten Unterrichtselemente wurden in Deutschland und Norwegen im Herbst 2021 im ersten Studienjahr von Physiotherapiestudierenden in den Fächern Anatomie und Physiologie praktisch getestet und reflektiert.


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Ergebnisse

Anknüpfpunkte

Die quantitative Analyse zeigte einen vielversprechenden Trend bei der Nennung von Begriffen wie Klima, Nachhaltigkeit und Umwelt in den aktuelleren Dokumenten. Abgesehen von einem neuen Dokument, in dem auffallend viele explizite Nennungen der relevanten Begriffe vorkamen, zeigte sich in den anderen Dokumenten eine unspezifische Nennung des Begriffs „Umwelt". Er wurde abwechselnd mit Wohn-, Arbeits- und Bildungsumwelt, sozialer Umwelt und dem Zuhause gleichgesetzt. Die unvollständige Erwähnung der relevanten Begriffe bietet nach Richter und Maric Anknüpfungspunkte, um das Thema „Planetare Gesundheit“ in die Lehrpläne zu implementieren. Die Analyse zeigte jedoch, dass ökologische Aspekte mit Bezug zur Umwelt, Nachhaltigkeit und planetarer Gesundheit bisher nur sehr wenig thematisiert werden.

Die Inhalte der Lehrpläne bewahren den Fokus eines mechanistischen Körperbildes als zentralen Bestandteil der medizinischen und gesundheitlichen Ausbildung und der damit verbundenen beruflichen Sozialisation [9]. Alles außerhalb des Körpers wird als nebensächlich oder bestenfalls als ermöglichende oder behindernde Umweltfaktoren bezeichnet [10]. Die Module Anatomie und Physiologie werden von den Forschenden als Anknüpfpunkte identifiziert, um das Thema „Planetare Gesundheit“ in die Ausbildung angehender Physiotherapeut*innen zu implementieren, weil diese Module prägend sind für das Weltverständnis von Therapeut*innen. Die Forschenden erarbeiteten die Konzepte Ökologische Körper und Relationale Anatomien, um den Zugang zur planetaren Gesundheit in diesen Fächern zu ermöglichen.


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Ökologische Körper

Die in den Lehrplänen dominante Form der Anatomie reduziert den Körper auf Skelett, Muskeln und alles andere, das von der Haut augenscheinlich umschlossen wird, ohne Bezug zur Umwelt. Vielfältige Darstellungen von menschlichen Körpern in unterschiedlichen sozialen und ökologischen Umwelten sind Richter und Maric zufolge jedoch notwendig, um einen Zugang zur planetaren Gesundheit zu schaffen. Dabei sei der Bezug zur Evolution des Körpers im Zusammenspiel mit der Erde und den ökologischen Bedingungen der Klimaepoche Holozän wichtig, denn dies verdeutliche die Funktionalität und fortwährende Abhängigkeit des Körpers zur Geschichte des planetaren Ökosystems.

Um zu verdeutlichen, dass der menschliche Körper mit der Natur verflochten ist, hilft es z. B., auch die mineralische Zusammensetzung des Körpers zu erwähnen [11] sowie den Einfluss der Schwerkraft auf den Körper, die Formung von Knochen und Muskeln und den Einfluss der Umwelt auf die Thermoregulation oder die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Struktur und Funktion des Körpers zu thematisieren.

Ökologische Körper zeigen, dass der menschliche Körper weitaus weniger Grenzen hat als in der gewöhnlichen Anatomie und Physiologie angenommen wird [12]. Körper müssten dementsprechend auch nie einzeln, sondern immer in der Mehrzahl verstanden und abgebildet werden. Ein biomedizinisches Gesundheitsverständnis der vermeintlich isoliert menschlichen Anatomie und Physiologie gerät dabei deutlich in die Kritik.


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Relationale Anatomien

Relationale Anatomie entsteht ebenso aus der Kritik an einem Anatomieunterricht, der den menschlichen Körper in abgegrenzten Systemen, z. B. dem Bewegungsapparat, betrachtet, mit der Forderung, Anatomie relational, also die Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und seiner Umwelt, zu unterrichten [13]. Mithilfe dieses Konzeptes sehen Richter und Maric die Möglichkeit, den Übertrag auf ökologische Beziehungen sinnvoll zu gestalten. Anwendungsbeispiele in der Anatomie und Physiologie sind Gelenke, die wichtig sind für die Beziehungsbildung, nicht nur zwischen Knochen und Muskeln, sondern auch zwischen Körper und Umwelt. So kann ein Kniegelenk eine Person auf einem Stuhl sitzen lassen oder das Schultergelenk den Stuhl, durch das Ausstrecken des Arms, näher heranziehen. Die Umwelt, in der der Mensch lebt und agiert, beeinflusst und prägt das Gelenk in seiner Struktur und Funktion. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Gelenken und Umwelt.

Mit der Anerkennung der Wechselwirkung zwischen Gelenken, Körpern und Umwelt formulieren Richter und Maric notwendige Änderungen für den Anatomie- und Physiologieunterricht:

  • Einbindungen einer viel komplexeren Sichtweise von menschlichen Körpern und eines viel breiteren Spektrums an Gelenken als bisher.

  • Lehren menschlicher Anatomie in Verbindung mit vielfältigen und dynamischen Beziehungen, von denen Körper, Struktur, Funktion, Aktivität und Teilhabe abhängen.

  • Eine entsprechende Neukonzeptionierung und Verankerung in ökologischen Körpern und relationalen Anatomien.


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Schlussfolgerungen

Als Perspektiven für die planetare Gesundheit formulieren die Forschenden u. a., dass die Konzepte Ökologische Körper und Relationale Anatomien dabei helfen, die Mehrdimensionalität von menschlichen Körpern jenseits biomedizinischer Begrenzungen anzuerkennen. Sie erlauben eine Sichtweise auf Körper, die mit Kultur, Technologie, Politik, Ökonomie, Objekten, Ideen, Pflanzen und dem Planeten agieren [14]. Diese Anerkennung ermöglicht es, dass vielfältige Ideen aus anderen Disziplinen, wie der Philosophie, dem Feminismus, indigenem Wissen, der Kunst, Technologie oder der Kritischen Theorie, zum Verständnis und letztlich zum gesundheitsfördernden Behandeln relationaler Anatomien und ökologischer Körper beitragen können [15].

Der Bedarf der Implementierung der planetaren Gesundheit in die Ausbildung angehender Physiotherapeut*innen wird als hoch und dringend eingestuft und bedarf expliziter Lehrinhalte und der Sichtbarmachung des Mehrwertes für Bildung, Forschung und Praxis. Die Lehre der Konzepte Ökologische Körper und Relationale Anatomien kann Richter und Maric nach zur Anerkennung dieses Mehrwertes beitragen. Als notwendige zeitgleiche Voraussetzung wird das Verständnis menschlicher Körper als ökologisch und relational betont, immer eingebettet in das dynamische Wechselspiel von Umwelt und Gesellschaft.


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Publication History

Article published online:
19 February 2024

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