PiD - Psychotherapie im Dialog 2024; 25(04): 103
DOI: 10.1055/a-2249-8364
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Kleines Fastenbrechen

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(Quelle: © Alesia Berlezova/stock.adobe.com)

Jahrestagung des Verbandes, „Rahmenprogramm“. Es klang interessant: „Neukölln abseits der Zeitung“. Der gastgebende Kollege hatte sich schwer ins Zeug gelegt: Eine ehemalige „Stadtteilmutter“ sollte uns durch einen Teil dieses Berliner Bezirks führen, den wir alle aus unterschiedlichen Berichten ein wenig zu kennen glaubten.

Frau M. ist in Deutschland geboren, die eingewanderten Eltern kurdischer Herkunft sind einmal in die Türkei zurückgegangen und dann wiedergekommen. Frau M. trägt einen bodenlangen Mantel, Kopftuch und Sneakers, auf der Schulter hat sie eine textile Tüte einer Lebensmittelkette hängen. Sie spricht offen und sehr klar über Klischees und die Frage, ob alle Familien mit Migrationshintergrund 10 Kinder haben und die Männer ihre Frauen schlagen. Irgendwie scheint sie es mit den Klischees nicht so zu haben…

Wir hören: Hier leben Menschen aus weit über 100 Nationen, der Bezirk hat ungefähr so viele Einwohner wie die Stadt Karlsruhe – und könnte unterschiedlicher nicht sein. Leider sind wir am Beginn des Ramadan. Wenn sie sich die Anfrage genau angesehen hätte, hätte sie sie nicht angenommen, teilt uns Frau M. gleich zu Beginn freimütig mit: Wir können die Moschee nicht besuchen und heute Abend nach dem kleinen Fastenbrechen sind alle zu Hause und essen – es wird gar nicht so wuselig auf den Straßen sein, wie sonst. Sie habe fünf Kinder, einen Sohn und vier Töchter. Aktuell seien sie zu Hause noch mit vier Frauen. Sie lacht: „Der reinste Zickenkrieg, sage ich Ihnen…“. Der erwachsene Sohn ist mitgekommen und schaut irgendwann, nachdem sich die Gruppe am Rathaus getroffen hat, auf sein Handy. Er gibt der Mutter ein Zeichen und verteilt Datteln an die Kolleg*innen: Jetzt im Ramadan ist nun Zeit für das kleine Fastenbrechen…

Beim Weitergehen spricht Frau M. über Gentrifizierung, Moscheevereine, Zugehörigkeit, die arabische Sprache als Zugang zum Koran und darüber, dass sie plane, nach Mekka zu pilgern. Irgendwann betreten wir die Kirche der Martin-Luther-Gemeinde. Im Kirchraum sitzen wir auf Kirchenstühlen, lassen uns das Altarbild mit Szenen aus dem Bezirk erklären und lauschen unserer Stadtführerin andächtig, während sie ständig so ungefähr jedes Klischee bricht, dass uns einfallen könnte.

Im Gehen frage ich sie, ob sie von sich sagen würde, sie sei Deutsche. Sie antwortet, dass dies eine schwierige Frage sei. Sie fände es schade, dass ihre Kinder da auch nicht eindeutig seien – das würde sie sich und ihnen wünschen.

Bettina Wilms, Querfurt



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19 November 2024

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