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DOI: 10.1055/a-2261-6074
Für Sie gelesen: Aktuelle Studien
Martinelli L, Siegrist-Dreier S, Schlup N et al. „Wenn gewisse Spannungen da sind, wirkt das auf alle ein“. Multiple Fallstudie zu Prozessen von Zwangsmaßnahmen. Pflege 2023 (36) 6: 319–325.
Hintergrund: Trotz der Forderung der Vereinten Nationen (UN) im Jahr 2022, Zwangsmaßnahmen (= Interventionen, die gegen den ausdrücklichen Willen der betroffenen Person vollzogen werden; kurz: ZM) abzuschaffen, kommt es in psychiatrischen Kliniken weiterhin zur regelhaften Anwendung. Begründet werden ZM unter anderem damit, dass sie Sicherheit bei aggressivem Verhalten der Patient*innen gewährleisten. Von wesentlicher Bedeutung sind Interaktionsprozesse zwischen Fachpersonen und Patient*innen vor, während und nach ZM. Die Studie untersuchte das Erleben von Interaktionsprozessen im Zusammenhang mit ZM aus der Perspektive von Patient*innen, Pflegenden und Ärzt*innen.
Methode: Die multiple Fallstudie wurde zwischen Oktober 2021 und Januar 2022 in zwei akutpsychiatrischen Abteilungen einer psychiatrischen Klinik in der Deutschschweiz durchgeführt. Drei Fälle von ZM wurden unter anderem mittels Single-Case Analyse (= Analyse innerhalb eines Falls) und Cross-Case-Analyse (= Analyse zwischen den Fällen) anhand von vier Quellen untersucht: pflegerische und ärztliche Dokumentation; Einzelinterviews; Bildmaterial; Beobachtung.
Ergebnisse: Drei Spannungsfelder wurden eruiert: 1. Zwischen Anspannung und Entspannung: Anspannung zwischen den beteiligten Personen besteht wechselseitig in der Phase vor der ZM. Pflegende realisieren die Verantwortung für Entspannung. Emotionen wie Angst und Stress wirken sich negativ auf Interaktions- und Deeskalationsfähigkeiten aus. 2. Zwischenmenschlichkeit und Entmenschlichung: Während der ZM sind empathisches Verstehen, die Interaktion und die Wahrnehmung des Patienten als menschliches Gegenüber bedeutend. Klärung und Versöhnung nach ZM ist für Pflegende und Patient*innen wichtig, um die therapeutische Beziehung wiederherzustellen. 3. Zwischen Sicherheit und Autonomie: Sicherheit ist ein zentrales Element für Pflegende rund um ZM. Haben Pflegende das Gefühl, dass Situationen außer Kontrolle geraten, werden deeskalierende Maßnahmen eingestellt und Zwang angewandt. Prägend für diesen Wendepunkt sind Kommunikationsstörungen zwischen Pflegenden und Patient*innen.
Fazit: Damit Fachpersonen in angespannten, emotional belastenden Situationen deeskalierend wirken können, wird ein Deeskalationstraining mit dem Schwerpunkt auf Emotionskontrolle empfohlen. Eine ausreichende Personalbesetzung fördert eine empathische Grundhaltung und die Reduktion von Stress, was sich in der Folge sowohl auf die Prävention von ZM als auch auf die Pflegequalität auswirkt.
Gitte Herwig
Jaiteh C, Knüppel Lauener S, Fanaj F et al. Konflikte zwischen Personen mit Opiatabhängigkeit und Fachpersonal im Akutspital. Eine qualitative Dokumentenanalyse. Pflege 2023 (36) 6: 335–340.
Hintergrund: Schwerwiegende akute und chronische Erkrankungen führen bei Menschen mit Opiatabhängigkeit immer wieder zu stationären Klinikaufenthalten. Zudem erhalten Menschen mit Opiatabhängigkeit mitunter eine Opioid-Agonisten-Therapie, die während des Klinikaufenthalts weitergeführt werden muss. Während der stationären Behandlung kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Patient*innen und Fachpersonal. Ziel der Studie ist es, ein besseres Verständnis dafür zu erhalten, in welchen Situationen und aus welchen Gründen es zu Konflikten kommt.
Methode: Um die Fragestellung zu beantworten, wurden in dieser qualitativen Studie retrospektiv die Einträge von Fachpersonen in elektronischen Patient*innen-Akten analysiert. Ausgewertet wurden die Dokumentationen von konflikthaften Situationen in 177 Fällen (54 Konflikte wurden extrahiert) in Anlehnung an die Thematische Analyse nach Braun und Clarke (2021) im Zeitraum von Januar 2018 bis Juni 2018 im Universitätskrankenhaus Basel.
Ergebnisse: Drei Themen wurden identifiziert: 1. Unterschiedliche Prioritäten: Missverständnisse und negative Emotionen von Patient*innen und Fachpersonal ergaben sich aufgrund von Konflikten infolge krankenhausinterner Regeln sowie zeitlicher und organisatorischer Abläufe. Patient*innen verließen beispielsweise unerlaubt die Klinik, kamen verspätet zu Behandlungen oder lehnten diese ab. Persönliche Bedürfnisse und Wertvorstellungen der Patient*innen kollidierten mit denen der Pflegenden (Hygiene, Umfeldgestaltung). 2. Sich selbst medizieren: Patient*innen erlebten eine nur unzureichende Schmerzlinderung, was zu Diskussionen über Medikation und deren Einnahmezeiten führte. Es kam zu Drogenkonsum und Unregelmäßigkeiten bei der Abgabe von Substitutionsmedikation. 3. Als Mensch wahrgenommen werden: Negative Emotionen bei Patient*innen infolge unerfüllter Bedürfnisse (wie beispielsweise dem Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden), empfundenem Mangel an Pflege, belastenden Untersuchungen/Schmerzen.
Fazit: Persönliche Bedürfnisse und Wertvorstellungen von Patient*innen und Fachpersonen bieten Konfliktpotential. Fachpersonen vertreten die Vorschriften der Institution, welche nur wenig flexibel sind. Aus der Sicht von Menschen mit Opiatabhängigkeit sind Akutkliniken „Risiko-Umgebungen“, was sich aus deren Perspektive in einer Minderbehandlung von Schmerzen, Unruhe und fehlender Behandlungssicherheit äußert. Schulung der Behandler*innen in suchtmedizinischem Fachwissen ist essenziell für eine reflektierte Arbeitsweise, Etablierung eines personenzentrierten Ansatzes und die Anwendung schadensmindernder Elemente.
Gitte Herwig
Publication History
Article published online:
23 May 2024
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