Z Sex Forsch 2024; 37(02): 113-114
DOI: 10.1055/a-2306-8624
Bericht

Sexuelle und reproduktive Rechte im Kontext Sexarbeit – Fachtag der pro familia 2023 in Dresden

Mona Rauber
Sexualberaterin und Sexualpädagogin, Dresden
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Am 5. Juli 2023 fand der Fachtag „Gleiches Recht für alle? Sexuelle und reproduktive Rechte im Kontext Sexarbeit“ im Rahmen des Projekts „Sexuelle und reproduktive Rechte KONKRET (SRR konkret)“ des pro familia Bundesverbandes statt. Hauptveranstalter war der Projektstandort pro familia Landesverband Sachsen e. V., in Kooperation mit der neu gegründeten Daria – Fachberatungsstelle Sexarbeit in Dresden (Treberhilfe Dresden e. V.) und dem Projekt weiterdenken der Heinrich-Böll-Stiftung.

Unter den über 60 Teilnehmenden waren Expert*innen aus der Sexarbeit, Kund*innen, Fachkräfte aus Behörden und Beratungsstellen, politische Entscheidungsträger*innen sowie Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und andere Interessierte. Im Vorfeld der Veranstaltung hatte es mehrere Vorgespräche mit den Referent*innen aus der Sexarbeit gegeben, um einen möglichst sicheren Raum zu schaffen. So erhielten die Teilnehmenden im Vorfeld einige Hinweise zu respektvollem Verhalten und es gab einen gesonderten Rückzugsraum, zu dem nur Sexarbeiter*innen Zugang hatten. Die Veranstalter*innen hatten sich bewusst für Dresden als Veranstaltungsort entschieden, um die Sichtbarkeit der neu gegründeten Beratungsstelle zu verbessern und auf lokale Herausforderungen von Sexarbeiter*innen aufmerksam zu machen.

Dazu passend konstatierte Dr. Matthias Stiehler, Leiter des Gesundheitsamts Dresden, in seinem Grußwort, dass durch das Prostituiertenschutzgesetz, das temporäre Sexarbeitsverbot während der Corona-Pandemie und ein hohes Maß an Ablehnung vonseiten politischer Entscheidungsträger*innen die niedrigschwelligen Zugänge zu Gesundheitsversorgung und Beratung für Sexarbeitende erheblich erschwert würden. Uwe Tüffers, Referent des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, wies auf die neu gegründete Fachberatungsstelle Daria hin, die Sexarbeitende unabhängig berät.

In der folgenden Keynote gab Ruby Rebelde, Sexarbeiter*in und Aktivist*in, einen historischen Überblick über die Entwicklung von Sexarbeit und deren gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung. So wurden als „promiskuitiv“ geltende Personen auch in Dresden z. B. in sogenannten „Tripperburgen“ untergebracht oder sind bis heute von Sondergesetzen betroffen. Gegenwärtig würden die sexuellen und reproduktiven Rechte (SRR) von Sexarbeiter*innen weiterhin eingeschränkt, etwa durch gezieltes Vorgehen von konservativen Politiker*innen und sexarbeitsfeindlichen Organisationen. „Ausschlüsse beruhen auf Andersmachung. […] Abweichung wird bestraft. Daher ist es wichtig, dass kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen den SRR von Sexarbeiter*innen und denen der Gesamtgesellschaft. Schaffen wir die Andersmachung ab, […] dann schließen wir damit auch eine Sollbruchstelle […] für Angriffe auf die SRR von allen“, so Ruby Rebelde.

Der Fachtag war in insgesamt vier Symposien aufgeteilt mit jeweils drei Beiträgen, von denen immer zwei Symposien parallel stattfanden, eines mit dem Fokus auf Kund*innen, eines mit dem Schwerpunkt auf Sexarbeiter*innen. Im ersten Teil mit dem Fokus auf Sexarbeit lud zunächst Community-Coach und Antidiskriminierungsberaterin Olivia Green zur Reflexion über die Erfahrung einer Person of Color in der Sexarbeit ein und sammelte gängige Stereotype und rassistische Äußerungen, mit denen sie als Schwarze Frau in der Sexarbeit konfrontiert ist. Anschließend kam sie mit den Teilnehmer*innen ins Gespräch über strukturelle Diskriminierung, Exotisierung und Vereinzelung in der Sexarbeit und ihren Umgang damit. Rollenspiele, bei denen ein Machtgefälle herrsche, biete sie zum Beispiel nicht mehr jeder Person an, sondern hinterfrage im Vorgespräch die Intention ihres Gegenübers. „Ich möchte, dass Menschen, die Black Indigenous People of Colour (BIPoC) in der Sexarbeit als Sub [unterwürfige Person, Amn. MR] buchen, auch reflektieren, warum sie dies tun, und dass ihnen bewusst wird, wie sensibel das Thema ist.“ Außerdem stellte sie das Black Sex Workers Collective (BSWC) vor, welches sich für die Rechte von Schwarzen Sexarbeiter*innen einsetzt und als Vernetzungsmöglichkeit fungiert. Ferdinand Krista, Sexualbegleiter und Male-Bizarr, ging auf die Besonderheiten männlicher Sexarbeit ein, die in der Debatte um Sexarbeit häufig gar keine Berücksichtigung finde, auch wenn sie zum Teil anders funktioniere als die Arbeit von weiblichen Sexarbeiterinnen. Nadja Zillken von der Deutschen Aidshilfe führte in ihrem Vortrag „PrEP ohne Stigma. Stigma ohne PrEP“ aus, dass „vor allem weiblich gelesene Sexualitäten und Sexarbeit aufgrund von patriarchalen Strukturen und Vorurteilen hochstigmatisiert“ seien. „Diese Stigmatisierung fungiert als eine der größten Hürden für insbesondere weiblich gelesene Menschen, die PrEP [Prä-Expositions-Prophylaxe gegen HIV, Anm. MR] zu bekommen und sie auch sicher einnehmen zu können.“

Im ersten Slot der Kund*innenperspektive wurde zunächst der Film „Berühr mich“ von Hendrik Ströhle gezeigt, in dem eine Frau im Rollstuhl als Kundin Sexarbeit in Anspruch nimmt. Im Anschluss kamen die Sexualwissenschaftlerin Harriet Langanke aus Köln und Valentin, ein Kunde in der Sexarbeit, miteinander ins Gespräch und teilten Erfahrungswerte und wissenschaftliche Erkenntnisse zu Freiern. Dabei wurde klar, dass auch Freier Stigmatisierung erfahren, auch wenn diese differenziert zu betrachten ist und anders geartet als die Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen. Erwartungen von heterosexuellen Cis-Männern als Kunden in der Sexarbeit seien eine „ehrliche Illusion“, z. B. von der Lust der Sexarbeiterin, ein „faires Geschäft“ und „Sauberkeit und Hygiene“.

In der längeren Pause zwischen den beiden Slots gab es für Teilnehmer*innen und Referent*innen die Möglichkeit, niedrigschwellig ins Gespräch zu kommen. Dafür trugen alle Referent*innen Aufkleber, um als Expert*innen erkennbar zu sein und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Als zusätzliches Informationsangebot betreuten die Beratungsstellen Daria (Dresden) und Leila (Leipzig) sowie das Team des Roten Stöckelschuh einen Stand. Außerdem gab es einen Büchertisch einer lokalen Buchhandlung mit Fachliteratur zum Thema Sexarbeit und SRR. An den Wänden hingen Sprechblasen mit Aussagen von Sexarbeiter*innen, die nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnten oder wollten.

Im zweiten Slot ging es bei der Sexarbeiterin Versuchung Lydia um geschichtliche Hintergründe und aktuelle politische Forderungen von Sexarbeiter*innen, z. B.: „die „Abschaffung von Sperrgebietsregelungen. […] die Einrichtung von und das Mitspracherecht bei einem runden Tisch zu Sexarbeit […] auf Bundesebene […], Ausbau der Gesundheitsversorgung […] und Entwicklung eines Aus- und Fortbildungssystems für Sexarbeiter*innen.“ Außerdem: „die Anerkennung von Sexarbeit als freien Beruf und Zugang zur Künstlersozialkasse […], die Aufnahme von Sexarbeit ins allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und Bleiberecht für Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung.“ Delia Dancia aus der Fachberatungsstelle allerd!ngs in Thüringen referierte danach zur Freizügigkeit im Schengen-Raum anhand eines eindrücklichen Fallbeispiels einer Sexarbeiterin aus Rumänien. Sie zeigte zum einen auf, wie unter anderem ausbeuterische Arbeitsbedingungen in der Pflege zur Entscheidung führen können, in die Sexarbeit zu gehen. Zum anderen berichtete sie, welche Unsicherheiten durch das Prostituiertenschutzgesetz auf Sexarbeitende mit Migrationshintergrund zugekommen seien, etwa in Bezug auf die Arbeitserlaubnis in anderen Berufszweigen. Außerdem vertrat sie die Ansicht, dass „informierte Menschen auch informierte Entscheidungen treffen können“, dies also auch für Menschen in der Sexarbeit gelte. Jule Meglin von der Fachberatungsstelle Leila in Leipzig schließlich zeigte Missstände bei der gesetzlichen, nicht anonymen Pflichtberatung nach Prostituiertenschutzgesetz auf, bei der „viele der üblichen Beratungsgrundlagen gar nicht erfüllt oder abhängig von der Person [sind], die die Beratung durchführt. […] Eine häufige Kritik an der Pflichtberatung ist, dass es eine Bevormundung insbesondere von Cis-Frauen im Umgang mit dem eigenen Körper und reproduktiven Rechten sei“ und die Gesetzgebung „Sexarbeitenden nicht zutraut, professionell arbeiten zu können“, die Beratung also eher als soziale Kontrollfunktion von unerwünschtem Verhalten fungiere. Gute Beratung habe jedoch das Potenzial, Sexarbeiter*innen einen großen Mehrwert zu bieten, wenn sie reflektiert, bedürfnisorientiert, freiwillig und kostenfrei gestaltet werde und bestimmten Standards entspreche.

Im zweiten Symposium zur Kund*innenperspektive erzählte die qualifizierte Sexualbegleiterin für Menschen mit Einschränkungen Mary über ihre Arbeit mit Menschen mit Behinderung und bot den Zuhörenden einen Einblick in die Vielfalt ihrer Kund*innen. Hier diskutierte das Publikum kontrovers über unterschiedliche Formen von Ableismus beim Zugang zu und Haltung von Sexualassistenz. Tamara Solidor, Sexarbeiterin und Bizarr-Lady, ging auf das Potenzial von Sexarbeit im Bereich der Sexuellen Bildung Erwachsener ein, etwa im Zusammenhang mit dem Aushandeln von Konsens. Die Sexualtherapeutin Carina Pflumm referierte über Sexarbeit in Randbereichen, etwa wenn es um das Ausleben verschiedener sexueller Präferenzen und den Abbau von Scham und Leidensdruck geht. Gleichzeitig stellte sie aber fest, dass Kund*innen auch übergriffige bzw. schlechte Erfahrungen in der Sexarbeit machen könnten und dann ggf. Sexualtherapie in Anspruch nehmen würden.

Im anschließenden World Café diskutierten die Teilnehmenden gemeinsam mit den Referent*innen zu den Fragen: Wie kann ich in meinem beruflichen oder privaten Alltag dazu beitragen, dass SRR von Sexarbeitenden gestärkt werden? Welche SRR werden durch Sexarbeit gestärkt? Wie kann Sexarbeit aussehen, die die SRR aller Beteiligten als Grundlage hat? Die Ergebnisse sind auf der Projektwebsite www.sexuelle-rechte.de einsehbar. Ein Statement von Ferdinand Krista fasst es gut zusammen: „Es reicht nicht aus, die sexuellen und reproduktiven Rechte einfach nur zu kennen, man muss die eigene Sexualität reflektieren und gesellschaftliche Normen hinterfragen, um diese Rechte mit Leben zu füllen. Sexarbeit kann einen großen Teil dazu beitragen, eigene Vorurteile, Wünsche und Zwänge zu erforschen, und so einen ganz praktischen Beitrag zur Wahrung dieser essenziellen Menschenrechte leisten.“



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
13. Juni 2024

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