PPH 2024; 30(04): 206
DOI: 10.1055/a-2308-1233
Rund um die Psychiatrie

Für Sie gelesen: Aktuelle Studien

Gitte Herwig

Burr C, Schnackenberg J, Richter D et al. Pilotstudie zu Erfahrungsfokussierter Beratung durch Pflegende bei Menschen, die Stimmen hören – Evaluation der Umsetzung eines Studienplans. Pflege 2023; 36 (6): 341–348. DOI: 10.1024/1012-5302/a000962

Hintergrund: Stimmenhören ist bei Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung weit verbreitet, 64–80 % der Patienten dieses Diagnosespektrums hören Stimmen. Darüber hinaus kann auch bei anderen psychiatrischen Diagnosen und in der Allgemeinbevölkerung Stimmenhören vorkommen. Das Stimmenhören wird unterschiedlich konzeptualisiert und auch die Therapie und Hilfestellung für die Betroffenen unterscheiden sich in der Herangehensweise. Mit dem primären Ziel, die Stimmen zu beseitigen, werden bislang vor allem medikamentöse und kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze gewählt. Ein alternativer Ansatz ist die bislang noch wenig etablierte Erfahrungsfokussierte Beratung (Experience Focussed Counselling – EFC) durch Pflegefachpersonen. Sie richtet den Fokus darauf, die Stimmen zu akzeptieren und konstruktiv mit ihnen umzugehen.

Methode: Die bisherige Studienlage zum EFC-Ansatz erwies sich unzureichend. Eine Pilotstudie (Schnackenberg et al., 2016) wies methodische Mängel auf. Daher wurde eine weitere, multizentrische Pilotstudie mit Teilnehmenden (TN) zwischen 18 und 65 Jahren, die Stimmen hören und sich in psychiatrischer Behandlung befanden, als randomisierte, kontrollierte Studie (RCT) mit einfacher Verblindung (Study-Nurses) zur EFC-Beratung mit verbessertem Studienplan durchgeführt. Die Interventionsgruppe (IG) erhielt eine EFC-Beratung durch Pflegefachpersonen, die Kontrollgruppe (KG) erhielt eine übliche Behandlung. Um zu überprüfen, ob der verbesserte Studienplan für eine größere Studie zu verwenden ist, wurde er untersucht im Hinblick auf die Rekrutierung und Belastung der TN, die Brauchbarkeit der Assessmentinstrumente, die Umsetzung der EFC-Beratung und den Einsatz von Study-Nurses (SN), um verblindet Daten zu erheben.

Ergebnisse: Innerhalb von 15 Monaten konnten 21 TN in die Pilotstudie eingeschlossen werden, die TN der IG und KG schätzen ihre Teilnahme insgesamt als wenig belastend ein, die Assessmentinstrumente wurden inhaltlich von den TN beider Gruppen als geeignet und nützlich für den Umgang mit Stimmen empfunden. Während der EFC-Beratung erhielten alle TN der IG im Durchschnitt 15 von 20 möglichen Terminen (Dauer 60 Minuten), die Inanspruchnahme der SN sowie die Verblindung der Daten verliefen gut.

Fazit: Mit einigen Anpassungen (zum Beispiel Erhöhung der Anzahl der Studienzentren) zeigt sich der Studienplan auch für umfangreichere Studien geeignet. Im Rahmen dieser Pilotstudie steht noch eine Auswertung der Daten zur Wirksamkeit der EFC-Beratung aus; eine Studie mit größerer Stichprobe dient weiteren Erkenntnisse in Bezug auf Wirksamkeit und Evidenz der EFC-Beratung.

Gitte Herwig

Marti S, Brackmann N, Bregenzer U et al. Die Sichtweise des ärztlichen Dienstes hinsichtlich des klinischen Assessments durch Pflegefachpersonen in der Psychiatrie – Eine Case Study. Pflege 2024; 36 (6): 349–356. DOI: 10.1024/1012-5302/a000944

Hintergrund: In der Schweiz geben 15 % der Bevölkerung an, unter psychischen Problemen zu leiden. Der Anteil von somatischen Begleiterkrankungen bei Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen wird mit 30–50 % angegeben. Es ist davon auszugehen, dass körperliche Erkrankungen bei Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, beispielsweise infolge unspezifischer Symptome, unerkannt bleiben. Pflegefachpersonen mit einem Bachelorabschluss (BSc) oder Abschluss der Höheren Fachschule (HF) erwerben im Rahmen ihrer Ausbildungen Kompetenzen im Clinical Assessment und Decision Making (CADM). Mit dem Ziel, die Versorgungsqualität zu erhöhen, wurde das CADM durch Pflegefachpersonen 2017 in einer psychiatrischen Institution in der Schweiz implementiert. Die Anwendung dieser Fähigkeiten in der klinischen Praxis wird allerdings als nicht zufriedenstellend bewertet. Ziel der vorliegenden Studie war, das Erleben der Ärzte und leitenden Psychologen in Bezug auf die Durchführung des CADM durch Pflegefachpersonen zu erfassen.

Methode: Für die Studie wurde ein Embedded-Single-Case-Study-Design gewählt, um eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik zu ermöglichen. Die Datenanalyse erfolgte nach der Grounded Theory. Die Datensammlung beruht auf elf Experten-Interviews und der offenen, unstrukturierten Beobachtung in einer Schweizer Psychiatrie.

Ergebnisse: Aus diesem Vorgehen resultieren im Rahmen der Cross-Case-Analyse neun Themengebiete: 1) Stärken: Bereitschaft und Motivation zur Umsetzung; 2) Schwächen: unterschiedliche Umsetzung, nicht überall gegeben; 3) Risiken: Einsatz der Pflegenden als Lückenfüller aufgrund Ärztemangels; 4) Chancen: Entgegenwirkung somatischer Unterversorgung; 5) Erwartungen: Einschätzung eigener Grenzen und sorgfältige Arbeit; 6) Herausforderungen: Unklarheit in der Verantwortung; 7) Nutzen: Steigerung der Zusammenarbeit und Versorgungsqualität; 8) Kompetenzen der CADM-Pflegefachpersonen: Strukturiertheit und Engagement; 9) Wünsche für die Zukunft: Ausbau und Etablierung, Evaluation des CADM.

Fazit: Ärzte und Psychologen erleben das CADM durch Pflegefachpersonen als sinnvoll für das interprofessionelle Team, gleichwohl gibt es noch Unklarheiten. So sollte Rollenklarheit (Skill-Grade-Mix, Verantwortungsbereiche, Einsatzmöglichkeiten) geschaffen werden, klinisches Coaching für die CADM-Pflegenden durch Advanced Practice Nurses könnte unterstützend wirken.

Gitte Herwig



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
25. Juli 2024

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