Zeitschrift für Palliativmedizin 2024; 25(04): 187
DOI: 10.1055/a-2323-6235
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Lebensliteratur

Oben Erde unten Himmel

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Schauplatz des Romans ist eine japanische Großstadt. Die Menschen gehen ihrer regelmäßigen Arbeit nach, interessieren sich nicht füreinander. „In den sich leerenden Straßen hallten meine Schritte wider. Das Viertel, in dem ich wohnte, war verhältnismäßig ruhig. Hier wohnten hauptsächlich Pendler, die nach der Arbeit in ihre Wohnhöhlen zurückkehrten. Müde und gebückt schlurften sie ihrer Wege.“

Die Ich-Erzählerin Suzu ist Teil dieser „grauen Masse“. „Alleinstehend. Mit Hamster“ so beschreibt sie sich selbst. Wegen „mangelndem Liebreiz“ verliert sie ihre Stelle als Aushilfskellnerin und macht sich auf Jobsuche. Sie bewirbt sich auf eine Annonce als Reinigungskraft und begegnet bei ihrem Vorstellunggespräch dem skurrilen Herrn Sakai, der ihr und einem zweiten Bewerber nach 2 Whiskys offenbart, dass es sich um einen Job als Leichenfundortreinigerin handelt.

„Kodokushi“ – bezeichnet den Tod von Menschen, die in sozialer Isolation leben. Vor allem Männer mittleren und hohen Alters sind betroffen. Oft bleiben ihre Leichen lange unentdeckt. Allein im Großraum Tokio sterben so ca. 3000 Menschen pro Jahr.

Milena Michiko Flašar ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters und ist für ihre Romane „Ich nannte ihn Krawatte“ und „Herr Kato spielt Familie“, mehrfach ausgezeichnet worden.

Wie es der Autorin gelingt, dieses schwere Thema des einsamen Todes und der makaberen Fundorte in eine Leichtigkeit zu verpacken, gepaart mit subtilem Humor, ist erstaunlich. Mit wenigen, zarten Pinselstrichen werden die handelnden Personen charakterisiert, und der Leser taucht ein in eine fremde, oftmals kalte Welt der sozialen Isolation. Bruchstückhaft werden Details aus dem Leben der aufgefundenen Personen geschildert:

„Herr Ono, stellte ich fest, hatte eine Vorliebe für Grautöne gehabt. Hellgrau, dunkelgrau. Mittelgrau. Beinahe jedes Kleidungsstück, das ich vom Bügel nahm, war grau. Eine Ausnahme bildeten die Hemden. Die waren weiß. Hellweiß, dunkelweiß. Mittelweiß. Dementsprechend farblos musste sein Leben gewesen sein. Aber war meines denn bunter? Knallte es? Ich kam zu dem beschämenden Schluss, dass es im Vergleich zu dem pensionierten Bankbeamten ähnlich eintönig abschnitt.“

Durch ihre neue Arbeit ändert sich auch etwas an der Lebensweise von „Fräulein Suzu“, wie Hr. Sakai, ihr Chef, sie liebevoll nennt. Plötzlich nimmt sie ihre Nachbarn wahr, plaudert gelegentlich mit ihnen und betritt nach Jahren des anonymen „Nebeneinander lebens“ erstmals deren Wohnung.

Als ihr Arbeitskollege Takada, ein gestrandeter Außenseiter der Gesellschaft, der in einem Manga Kiss, einem japanischen Internetcafé mit Übernachtungsmöglichkeit, lebt erkrankt, nimmt Suzu ihn vorübergehend bei sich zu Hause auf. In einer sehr berührenden Szene wird beschrieben, wie beide nach Takadas Genesung, auf die Plattform ihres Wohngebäudes klettern, und hinter den grauen Fassaden der Wohnhäuser plötzlich das Leben der Menschen dahinter wahrnehmen:

„Ringsherum Häuser. Fenster und wieder Fenster, in denen sich Menschen bewegten. Einer spielte Klavier. Er hatte Kopfhörer auf und wiegte sich zu einer nur für ihn hörbaren Melodie. Eine erhob sich von einem Tisch, auf dem Mandarinen lagen. Planeten gleich lagen sie in einer bestimmten Anordnung zueinander. Wehende Vorhänge. Einer bügelte ein Hemd. Nichts Ungewöhnliches. Aber die Perspektive machte den Unterschied. Hinter uns lag die Straße. Und vor uns, unter dem dunstigen Abendhimmel, es dämmerte bereits, lag das, was man von der Straße aus nicht sehen konnte. Eine Welt des Verborgenen bereitete sich vor uns aus. (…) ,Wahnsinn‘ wiederholte ich.“

Diese Mischung aus trockenem, leicht morbidem Humor, berührenden Begegnungen, Lebensphilosophie, Herzenswärme und würdevollem Umgang mit dem Thema Tod, machen diesen Text zu einem besonderen Stück Lebensliteratur.

Otto Gehmacher, Hohenems



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
28. Juni 2024

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