Erfahrungsheilkunde 2024; 73(03): 147-154
DOI: 10.1055/a-2328-3248
Wissen

Johanniskraut und Brennnessel ayurvedisch betrachtet

Kalyani Nagersheth

Johanniskraut, Hypericum perforatum

Botanischer Steckbrief

Die Familie der Hartheugewächse (Hypericaceae) besteht aus 3 Gattungen und umfasst weltweit über 30 000 Arten, die in subtropischen und gemäßigten Gebieten wachsen. In Deutschland ist nur die Gattung Hypericum (griech. hyper = über; ikon = Bild) mit 9 Arten heimisch. Von diesen 9 Arten wird nur eine arzneilich verwendet, das Echte Johanniskraut ([ Abb. 2 ]). Es erreicht eine Höhe von 15–100 cm, der Wurzelstock ist holzig und verästelt. Der Stängel ist stielrund, mit Mark gefüllt, mit zwei erhabenen, herablaufenden Leisten. Dadurch hat man beim Betasten den Eindruck, als sei der Stängel zweikantig. Die Stängel sind extrem hart, es macht das Heu hart (Hartheu; Guna: hart). Blütezeit: Juni–September.

Zoom Image
Abb. 1 Johanniskrautblüte.

Zerreibt man die Blüten zwischen den Händen, wird ein roter Saft, das sog. Johannisblut, freigesetzt. Werden die Blätter gegen das Licht gehalten, sind helle Tupfen zu erkennen, durch die das Licht scheint. Es handelt sich um Ölbehälter, in denen dünnflüssiges ätherisches Öl gespeichert wird (durchsichtige Öldrüsen in den Blättern) ([ Abb. 2 ]).

Zoom Image
Abb. 2 Öldrüsen im Johanniskraut, Hypericum perforatum.

Am 21. Juni ist der längste Tag und die kürzeste Nacht, die Sommersonnenwende. Die Kraft der Sonne hat den höchsten Punkt erreicht, steht aber auch am Wendepunkt, denn ab diesem Tag nimmt ihre Kraft ab bis zur Wintersonnenwende. Mythologisch kann dies mit Baldur, dem Gott des Lichtes, in Verbindung gebracht werden. Er wird von seinem eigenen Bruder, dem blinden Gott der Zeit (Hödur) tödlich verletzt. Daher konnte im Rahmen der Christianisierung einfach der heilige Johannes der Täufer, der an diesem Tag enthauptet wurde, eingesetzt werden. An diesem Tag beginnt das Johanniskraut zu blühen und sollte auch an diesem Tag gesammelt werden. Im Rahmen der Christianisierung wurden die heidnischen Feste verändert. Die Sommersonnenwende konnte nicht abgeschafft werden, so wurde der „heilige“ Tag einfach um 3 Tage verschoben. Am 24. Juni ist Johannistag, der dem Heiligen geweiht ist.

Der Legende nach hat der Teufel die Löcher (Sekretbehälter) in den Blättern zu verantworten. Er sei in Zorn darüber geraten, dass die Menschen ihre Depressionen, die sie ihm viel leichter zugänglich gemacht hätten, mit diesem Kraut heilen konnten. So habe er vor lauter Wut mit einer Nadel lauter Löcher in die Blätter gestochen.

Im ältesten erhaltenen Dokument der mittelalterlichen Klostermedizin, dem „Lorscher Arzneibuch“ aus dem letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts, wird Hypericum erstmals zur Behandlung von Melancholie genannt. Für Paracelsus war das Sankt Johanniskraut ein Arcana (Universalmittel mit höchster Wirkkraft), eine Monarchei, der sich alle beugen müssen, denn es hat die göttliche Stärke, Phantasmata (Krankheiten ohne Corpus und Substanz, bzw. Wahnsinn, Aberwitz, böse Geister) in und um den Menschen zu vertreiben.


#

Publication History

Article published online:
14 June 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Schilcher H. Leitfaden Phytotherapie. Kandern: Narayana; 2016
  • 2 Saum K, Mayer JG, Uehleke B. Handbuch der Klosterheilkunde. Neues Wissen über die Wirkung der Heilpflanzen. Vorbeugen, behandeln und heilen. München: ZS; 2008
  • 3 Fischer-Rizzi S. Medizin der Erde. Heilanwendung, Rezepte und Mythen unserer Heilpflanzen. Aarau: AT; 2005
  • 4 Stosiek N. Johanniskraut in der Onkologie. Z Phytother 2013; 34: 116-120
  • 5 Musselmann B, Rychlik R, Burkart M. Stellenwert von Johanniskrautextrakt in der hausärztlichen Depressionstherapie. Eine nicht interventionelle Studie. MMW Fortschr Med 2011; 4