Pneumologie
DOI: 10.1055/a-2341-6337
Leserbrief

1 Million beatmete Patienten in Deutschland: Eine komplette Übersicht über die Jahre 2019–2022

Norbert Suttorp
Fächerverbund Infektiologie, Pneumologie und Intensivmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
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Diese Studie mit Christian Karagiannidis als Erst- und Reinhard Busse als Letztautor im Lancet [1] ist etwas ganz Besonderes: Daten zu 1 Million beatmeten Patienten in Deutschland über 4 Jahre (2019–2022). Das Vorliegen eines kompletten Datensatzes (ausgenommen verlegte beatmete Patienten) ist einmalig und mir war sofort klar: Das wird viele Diskussionen und viel Nachdenken über unser Gesundheitssystem sowohl in der Medizin als auch in der breiten Öffentlichkeit auslösen.

Die Ergebnisse muss man erstmal „sacken“ lassen:

Die Rate an Beatmungen pro 100.000 Einwohner beginnt bei jüngeren Patienten bei 110 und endet mit 1275 bei Patienten > 80 Jahre. Die Daten sind weiter aufgeschlüsselt nach Beatmungsart (nicht-invasiv, invasiv, ECMO) und Hauptdiagnose und Komorbidität sind jeweils erfasst. Die durchschnittliche Mortalität betrug 43 % (28 % bei den Jüngeren und 59 % bei den Patienten > 80 Jahre). Durchschnittlich 11 % aller Verstorbenen der deutschen Gesamtbevölkerung sterben am Beatmungsgerät. Die Kosten für Beatmung pro Jahr in Deutschland betragen ca. 6 Milliarden Euro.

Ich war wirklich überrascht, wie viele Personen hierzulande insgesamt beatmet werden und wie viele > 80-Jährige beatmet werden. Unter Beatmung verstirbt etwa jeder Zehnte aller Verstorbenen der deutschen Gesamtbevölkerung, bei Erwachsenen im Alter unter 60 Jahren fast jeder Fünfte. Es gibt natürlich Indikationen, auch Patienten > 80 Jahre zu beatmen, aber die sehr hohe Zahl dieser Patienten macht nachdenklich. Eine solch hohe Rate an beatmeten älteren Patienten gibt es nur noch in den USA. Sie ist halb so hoch in Kanada und in England beträgt sie nur ca. 1/5 [2]!

Die durchschnittliche Sterblichkeit, die hier als Real-World-Daten vorliegt, ist sehr hoch und viel höher, als sie uns aus kontrollierten Studien bekannt ist.

Folgende Gedanken ergeben sich unmittelbar:

  • Ist das normal oder ist da was aus dem Ruder gelaufen? Können wir sagen: Deutschland ist reich und wir leisten uns das einfach und England ist nicht ganz so reich und dann stirbt man einfach früher?

  • Haben wir den Tod aus unserem Leben verdrängt? Können wir den Tod nur noch akzeptieren, wenn er am Beatmungsgerät passiert? Es gibt in England die Lancet-Kommission zur Bedeutung des Todes: „bring death back into life“ [3]. Können wir keine „end-of-life-care“ und sind wir überfordert, körperliche, psychische, soziale und spirituelle Hilfe zu leisten?

  • 6 Milliarden Euro/anno nur für Beatmung – das ist eine Ansage. Unterstreicht das aber nicht, dass wir viel zu sehr auf Kuration setzen, nicht auf Palliation und noch weniger auf Prävention? Dazu passt, dass Deutschland im Hinblick auf die Tabakkontrolle nach den Vorgaben des WHO Framework Convention for Tobacco Control (FCTC) im Ranking von 37 Staaten mit 4 weiteren Staaten auf den letzten Plätzen liegt [4]. Aber wenn es um Intensivbetten pro 1000 Einwohner geht, liegt Deutschland weit über dem OECD-Durchschnitt und auf einen der vorderen Plätze [5].

  • Hängt die hohe Mortalität bei beatmeten Patienten an mangelnder Strukturqualität? Betten und Geräte sind sicherlich da, aber ist Personal in ausreichender Anzahl und Ausbildung vorhanden? Wurden Leitlinien ausreichend implementiert? In Deutschland erfolgt kein flächendeckendes Monitoring der strukturellen und medizinischen Qualität der intensivmedizinischen Versorgung. Sicher kennen wir nur die Anzahl freier Intensivbetten. Hier sind die entsprechenden deutschen Fachgesellschaften gefragt, ein besseres Qualitäts-Monitoring zu implementieren.

  • Ist die Ökonomisierung der Medizin für den exzessiv erscheinenden Einsatz der Beatmung verantwortlich? Ist gar das DRG-System schuld? Richtig ist, dass es viele Intensivbetten gibt und dass Beatmungs-DRGs eher gut bezahlt werden.

Applaus den Autoren zu dieser augenöffnenden Studie. Nur eine gute Studie eröffnet die Möglichkeit vieler neuer Fragen. Die Studie muss die Gesellschaft im Allgemeinen und die Medizin im Besonderen beschäftigen. Sie ist auch ein sehr wichtiges Stück Information angesichts der angestrebten Krankenhausreform, deren dezidiertes Ziel es ist, mehr Qualität in die Krankenversorgung zu bringen.



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Article published online:
12 June 2024

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