Nervenheilkunde 2024; 43(12): 667-669
DOI: 10.1055/a-2357-5202
Zu diesem Heft

Versorgungsgerechtigkeit und Digital Mental Health

Julian Schwarz
,
Jakob Kaminski
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Peter Brieger
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Dr. med. Julian Schwarz
Medizinische Hochschule Brandenburg, Rüdersdorf
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Prof. Dr. med. Peter Brieger
kbo-Isar-Amper-Klinikum, München
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Dr. med. Jakob Kaminski
Charité Universitätsmedizin Berlin

In den letzten Jahren hat die Entwicklung digitaler Versorgungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen einen deutlichen Aufschwung erfahren: Es ist ein großer Markt für digitale Anwendungen zur Stärkung der psychischen Gesundheit, Selbsthilfe-Apps, Online-Coaching-Angebote, verschreibungspflichtige digitale Therapeutika (DTx) und hybride sowie Telemedizinangebote entstanden. Einerseits eröffnet diese Entwicklung die Möglichkeit, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern, indem eine qualitativ hochwertige, wirksame und zugängliche Gesundheitsversorgung für unterversorgte Bevölkerungsgruppen mit psychischen Störungen bereitgestellt wird. Immerhin besitzen ca. 70 % der Weltbevölkerung [1] und ca. 82 % der Bevölkerung in Deutschland [2] ein Smartphone, von denen viele derzeit keinen Zugang zu psychosozialer Versorgung haben. Andererseits bergen digitale Versorgungsangebote das Risiko, bestehende gesundheitliche Ungleichheiten zu verstärken, wenn nur Privilegierte über die notwendigen finanziellen Mittel, ein modernes Smartphone und die digitale Gesundheitskompetenz verfügen, um von den Angeboten zu profitieren. Zudem berücksichtigen nur wenige der derzeit verfügbaren Apps die kulturelle, sprachliche und sozioökonomische Vielfalt von rassistisch und anderweitig marginalisierten Bevölkerungsgruppen, sodass digitale Angebote Ungleichheiten eher reproduzieren, und sogar verstärken als abbauen können (Stichwort: „digital divide”) [3].

Die digitale Gesundheitskompetenz und die Berücksichtigung der kulturellen Bedürfnisse potenzieller Nutzerinnen und Nutzer werden durch eine zweite Hürde erschwert: Die fehlende Ausbildung und Erfahrung des medizinischen Personals im Umgang mit diesen digitalen Angeboten. Häufig fehlt es am notwendigen Hintergrundwissen und vor allem an verfügbaren Zeit-/Vergütungsmodellen, um digitale Tools sinnvoll in die Behandlungsprozesse zu integrieren. Ein Ansatz zur Lösung dieses Versorgungsproblems ist es, ausgewählte Mitarbeiter medizinischer Teams (z. B. medizinische Fachangestellte) zu sogenannten „digitalen Navigatoren” fortzubilden. Digitale Navigatoren können sowohl Patienten als auch Gesundheitspersonal bei der Auswahl und Nutzung von digitalen Versorgungsangeboten unterstützen, die notwendigen digitalen Kompetenzen vermitteln, die Adhärenz verbessern und Behandler entlasten. Ein weiterer Ansatz sind Versorgungskonzepte, die auch die Zeit honorieren, die notwendig ist, um digitale Tools einzurichten, zu individualisieren und zu evaluieren und damit für den einzelnen Patienten in den Behandlungskontext einzubinden. Für die Erstberatung, Verordnung und Evaluation von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) können Ärzte und Psychotherapeuten bereits rund 7 Euro abrechnen, was angesichts der Komplexität der Tools und der Auswertung der Ergebnisse leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Auch in anderen medizinischen Fachgebieten (z. B. Kardiologie) gibt es Zusatzpauschalen für telemedizinische Versorgungsangebote in der Regelversorgung oder auch z. B. über Selektivverträge. Komplexere hybride Versorgungskonzepte mit telepsychiatrisch/-psychotherapeutischer Unterstützung existieren bisher nur in Modellprojekten, könnten sich aber aufgrund der vielfach positiven Bewertung der Kosteneffizienz und der guten Akzeptanz bei den Patienten voraussichtlich bald durchsetzen.

Ein weiteres Thema, das in diesem Heft behandelt wird und im Hinblick auf Fragen der Versorgungsgerechtigkeit von hoher Relevanz ist, ist der Zugang zu persönlichen Gesundheitsdaten, die im Verlauf einer (psychiatrischen) Behandlung entstehen. Elektronische Patientenakten (ePA) werden weltweit in immer mehr Ländern eingesetzt, so auch in Deutschland, wo ab dem 1.1.2025 alle gesetzlich krankenversicherten Patienten einen digitalen Zugang zu ihren Laborbefunden und Medikationsplänen erhalten sollen. In den USA, Großbritannien und den skandinavischen Ländern können Patienten sogar die gesamte Behandlungsdokumentation einschließlich der Verlaufsnotizen der behandelnden Ärzte digital einsehen (sog. „Open Notes”). Erste Forschungsergebnisse zu Open Notes sind vielversprechend und weisen auf eine Verbesserung der Gesundheitskompetenz, Adhärenz und weitere positive Outcomes hin [4]. In der Psychiatrie und Psychotherapie gibt es jedoch verschiedene ethische und praktische Herausforderungen, die eine Umsetzung behindern, wie z. B. der Umgang mit vorläufigen Diagnosen, Gegenübertragung und weiteren vermeintlich wertenden Inhalten [5]. Einerseits könnte der digitale Zugang zu Open Notes dazu beitragen, die Beteiligung und Autonomie von psychiatrischen Patienten zu stärken und die medizinische Behandlung zu einem partizipativen Prozess zu machen. Andererseits zeigen Studien, dass Behandler weniger offen dokumentieren oder zu Paralleldokumentationen neigen, wenn sie wissen, dass Patienten mitlesen können. Zudem ist nicht geklärt, ob Open Notes einen negativen Einfluss auf Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen haben. Aus diesen und weiteren Gründen werden Gesundheitsdaten und Befunde aus der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung in den USA, Schweden sowie einigen weiteren Ländern gar nicht – oder erst verspätet – für Patienten digital freigeschaltet. Das medizinische Personal vermutet eine zusätzliche Belastung durch einen erhöhten Dokumentationsaufwand oder mögliche Missverständnisse beim Lesen von Open Notes. Schließlich ist die Studienlage zu Open Notes im deutschen Versorgungssystem sehr begrenzt und weitere Forschung ist notwendig, um die klinische Sicherheit, Effektivität, Effizienz und Implementierung dieser sozio-technischen Intervention zu überprüfen. Mit Blick auf Gerechtigkeitsfragen sollte auch psychiatrischen Patienten der digitale Zugang zu ihren Gesundheitsdaten ermöglicht und die bereits beschriebenen Zugangsbarrieren berücksichtigt werden. Dazu gehört auch die Bereitstellung von Zugängen für unterstützende Personen, wie z. B. Angehörige von älteren psychisch erkrankten Patienten oder Sorgeberechtigte von Patienten, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt werden. Ein weiteres Problem betrifft die unterschiedliche Gesundheitskompetenz der Personen, die Zugang zu ihren eigenen Gesundheitsdaten haben und diese mehr oder weniger gut verstehen und für ihre Gesundheit nutzen können. Ein diesbezüglich vielversprechender Ansatz ist der Einsatz von künstlicher Intelligenz [6], um z. B. Arztbriefe und klinische Verlaufsdokumentationen in eine patientenindividuelle, nicht-medizinische Sprache zu übersetzen und damit besser zugänglich zu machen.

Das vorliegende Themenheft beleuchtet innovative Ansätze und Konzepte digitaler Versorgungsangebote im Bereich der psychischen Gesundheit. Dabei werden deren Potenziale und Methoden diskutiert, die zur Förderung der Versorgungsgerechtigkeit beitragen, indem sie bestehende Barrieren abbauen und den Zugang zu diesen Angeboten für unterversorgte Gruppen erleichtern – ohne gleichzeitig die Gefahr zu bergen, bestehende Ungleichheiten weiter zu verstärken. Als Fazit lässt sich festhalten, dass digitale Versorgung in der Psychiatrie und Psychotherapie ein großes Potenzial hat, jedoch nur dann wirklich gerecht und effektiv ist, wenn sowohl die digitale Gesundheitskompetenz der Nutzer als auch die strukturellen Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem entsprechend berücksichtigt und verbessert werden.

Julian Schwarz, Rüdersdorf, Peter Brieger, München, Jakob Kaminski Berlin



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Article published online:
02 December 2024

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