Z Sex Forsch 2024; 37(03): 176-177
DOI: 10.1055/a-2366-3783
Bericht

Erstmals vernetzt – Tagungsbericht zum Scoping-Workshop „Kritische Pornografie-Forschung“

Nastold Friederike
1   Institut für Kunst und visuelle Kultur, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
,
Leonie Zilch
2   Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
› Author Affiliations

Vom 17. bis 19. Januar 2024 fand in Hannover im Tagungs- und Kongresszentrum Schloss Herrenhausen der von der Volkswagenstiftung geförderte Scoping-Workshop „Kritische Pornografie-Forschung“ statt.[ 1 ] Ziel des Workshops war es, Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen zusammenzubringen, um den Grundstein für eine Pornografie-Forschung zu legen, die der Komplexität ihres Gegenstands gerecht wird.

Ausgangspunkt war die Beobachtung einer bedenklichen Diskrepanz zwischen der Veralltäglichung von Pornografie und dem geringen wissenschaftlich gesicherten Wissen über sie. Obwohl sich Pornografie schon immer an den Schnittstellen zwischen audiovisuellen, körperlichen, vergeschlechtlichten, kulturellen, juristischen, pädagogischen, gesundheitlichen, psychologischen wie auch wirtschaftlichen Diskursen bewegt hat, findet deren Erforschung noch immer häufig vereinzelt und innerhalb abgesteckter Disziplingrenzen statt. Das Format Scoping-Workshop legt den Fokus auf die Reflexion und Weiterentwicklung disziplinärer wie interdisziplinärer Forschungsgebiete.[ 2 ] Entsprechend sollten in dem Workshop – ausgehend von einer Standortbestimmung des Forschungsfeldes – die jeweils fachspezifischen Expertisen, Grenzen und Schnittmengen herausgearbeitet, bestehende Forschungslücken identifiziert und Kooperationsmöglichkeiten entwickelt werden. Der Workshop folgte hierbei der Leitfrage, wie eine kritische Pornografie-Forschung einen informierten, differenzierten und verantwortungsbewussten Umgang mit Pornografie in der Gesellschaft fördern kann. Beteiligt waren Wissenschaftler*innen aus den Disziplinen Kunstgeschichte, Theater-, Film-, Medien- und Kulturwissenschaft, Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaften, Rechtswissenschaft sowie Geschichte.[ 3 ]

In Anlehnung an die Ziele des Workshops gliederten sich die drei Workshop-Tage in „Standortbestimmung“ (Tag 1), „Potenziale“ (Tag 2) und „Visionen“ (Tag 3). Die erste Kleingruppenarbeit „Interdisziplinärer Austausch I“ lud zur Reflexion der eigenen Disziplin ein. Zur Diskussion stand, inwiefern Pornografie ein etablierter Untersuchungsgegenstand in der eigenen Disziplin ist (oder nicht) und welche Forschungslücken in den jeweiligen Disziplinen bestehen. Es wurde deutlich, dass fast alle Teilnehmer*innen mit einer Form von „Besonderung“ respektive Stigmatisierung des Forschungsgegenstands konfrontiert sind und sich eine Vernetzung – auch insbesondere zur Weiterentwicklung interdisziplinärer Forschungsansätze – wünschen. In der daran anschließenden Gruppenarbeit „Interdisziplinärer Austausch II“ standen ausgehend von den fachspezifischen Pornografie-Definitionen die Verortung und Auslotung der je eigenen fachlichen Expertise sowie deren Grenzen im Fokus. Hier wurde beobachtet, dass je nach Fach mit sehr unterschiedlichen Definitionen operiert wird, die mitunter in einem Spannungsverhältnis, was die wissenschaftliche Präzision angeht, zueinanderstehen. Der erste Tag wurde mit einem Wrap-Up zur „Standortbestimmung“ des Forschungsfeldes im Plenumsgespräch beendet. Dabei wurde insbesondere die Diskrepanz zwischen einerseits dem öffentlichen und gesellschaftlichen Interesse am Forschungsgegenstand, das den beteiligten Wissenschaftler*innen begegnet, und andererseits der Erfahrung, dass die Erforschung von Pornografie innerhalb der eigenen Disziplin nicht etabliert ist, hervorgehoben. Die Abwesenheit von Porn Studies im deutschsprachigen Raum als Disziplin wurde als Symptom dieser Diskrepanz benannt.

Der zweite Tag „Potenziale“ knüpfte an die Diskussionen des Vortages an, indem die in den Gruppen erarbeiteten Schnittmengen und Differenzen wie auch weitere Problemfelder vorgestellt und identifiziert wurden. Zum einen stand die Notwendigkeit einer Pornografie-Definition zur Diskussion – und zwar aus pragmatischen Gründen: Eine der Arbeitsgruppen sprach sich für je eine kontextabhängige Definition aus, wie beispielsweise eine juristische, historische, kulturelle, Rezeptions- oder Produktionsperspektive etc. Auch wurde der Begriff der medialisierten Sexualität ins Spiel gebracht und es wurden Begriffe wie Affekt und Lust diskutiert. Zugleich wurde die Relevanz der affektiven Gegenstandsbeziehung als notwendiger Teil der Analysearbeit betont. Deutlich wurde darüber hinaus, dass wiederholt die (Un-)Möglichkeit des Archivierens des Gegenstands Teil des Austausches war. Im Fokus stand dabei die Frage, wie es Pornografie-Forschung geben kann, wenn es keine Pornografie-Archive gibt, insbesondere für privat angefertigte und ausgetauschte pornografische Darstellungen.

Es folgte ein Praxisimpuls von Pornodarstellerin und -produzentin Fiona Fuchs. Gesprächsgegenstände waren die Arbeits- und Produktionsbedingungen am Set, Amateur*innen-Pornografie im Allgemeinen sowie Post-Produktion, Website-Betreuung und Social-Media-Kommunikationsstrategien. Ebenfalls Thema des Gesprächs war die Free Speech Coalition Europe – der Berufsverband für die Pornografiebranche (https://freespeechcoalition.eu/), an dessen Gründung und Aufbau Fuchs beteiligt ist. Der Verband setzt sich für die Rechte von Sexarbeitenden, für die Anerkennung vielfältiger Sexueller Bildung und Entmystifizierung von Pornografie ein. Ebenso diskutiert wurden Erfahrungen struktureller Diskriminierung von Pornografieschaffenden (etwa Verweigerung von Bankkonten für Sexarbeitende), die unbestrittene Relevanz von Jugendschutz sowie die Haltung von Pornografieschaffenden zu diesem Thema und die Anerkennung von Pornografie als Unterhaltungs- und Bildungsmedium.

Am Nachmittag fand ein World-Café statt. Vier Themenschwerpunkte, die als Topoi populärer Pornografiediskussionen gelten können, standen dabei zur Auswahl: 1) Pornografie und Jugend(-gefährdung), (2) „Pornografiesucht“ und Pathologisierung von Sex, (3) Pornografie und Gewalt sowie (4) Pornografie und Praxis. Beim letztgenannten Thema gab es die Möglichkeit, das Gespräch mit Fiona Fuchs noch einmal zu reflektieren und den Stellenwert der Pornoindustrie für die Erforschung von Pornografie zu diskutieren. In Bezug auf alle Themenschwerpunkte wurde deutlich, dass gesellschaftliche Debatten um Pornografie von Vorurteilen, Moralisierungen und großem Unwissen durchzogen sind. Obwohl der wissenschaftliche Diskurs viel differenzierter ist und Antworten auf öffentlich diskutierte Fragen bietet, scheinen diese kaum wahrgenommen zu werden bzw. es nicht in die Öffentlichkeit und zu politischen Entscheidungsträger*innen zu schaffen.

Nach dem World-Café wurde in interdisziplinären Kleingruppen im Anschluss an den Vortag die Diskussion um eine einheitliche Pornografie-Definition wieder aufgenommen. Als Tischvorlage standen vier Pornografie-Definitionen bzw. Merkmale zu deren Bestimmung zur Diskussion: die juristische Bestimmung im Strafgesetzbuch, die in den Sozialwissenschaften verbreitete inhaltlich-funktionale Definition, die Definition der Kommission für Jugendmedienschutz sowie die Richtlinie für die kulturelle Filmförderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Es wurde offensichtlich, dass der Pornografie-Begriff in diesen vier Kontexten sehr unterschiedlich verwendet wird, nicht immer wertneutral, sondern im Gegenteil teilweise sogar moralisierend und normierend. Entsprechend sollte in den Kleingruppen der Versuch unternommen werden, eine eigene Definition zu erarbeiten, die wissenschaftlichen Standards gerecht wird. Der zweite Workshoptag wurde mit einem kurzen Wrap-up des Tages abgerundet.

Der dritte Tag stand unter dem Motto „Visionen“. Ziel war es, das gemeinsam Erarbeitete zu resümieren, festzuhalten und über zukünftige Möglichkeiten der Zusammenarbeit nachzudenken. Zunächst wurde noch einmal im Plenum über eine einheitliche Pornografie-Definition und das Selbstverständnis einer kritischen Pornografie-Forschung gesprochen. Obwohl bereits sprachliche Feinheiten möglicher Definitionen diskutiert wurden, bestand Einigkeit darin, dass für eine finale Ausformulierung mehr Zeit benötigt wird. Vor dem Hintergrund des interdisziplinären Austauschs wurde jedoch auch noch einmal die Notwendigkeit betont, gemeinsam an einer Definition zu arbeiten, da aktuelle Pornografie-Definitionen nicht ausreichen, um der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu werden. Voraussichtlich wird es dabei auf eine kontextabhängige Definition hinauslaufen. Im Rahmen eines Brain-Walks wurden im Anschluss Fragen nach der Relevanz (Warum halten wir eine kritische Pornografie-Forschung für sinnvoll?) und der (ethischen) Haltung gegenüber der eigenen Forschung, dem eigenen Gegenstandsbezug, aber auch gegenüber Studierenden und der Öffentlichkeit diskutiert. Ebenso zur Diskussion standen die Rolle und Relevanz von Wissenschaftskommunikation und die Frage, wie sinnvoll es ist, von einer „kritischen“ Pornografie-Forschung zu sprechen. In Bezug auf den letztgenannten Punkt konnte ein abschließender Konsens entwickelt werden. Entgegen einer „Besonderung“ des Forschungsfeldes, einer Selbstzensur oder einer doppelten Stigmatisierung durch das Präfix „kritisch“ entschied sich der Arbeitskreis, das Forschungsfeld und das sich entwickelnde Netzwerk einfach als „Pornografie-Forschung“ zu bezeichnen. Ein kritischer Gegenstandsbezug gehört schließlich zu jeder ernsthaften wissenschaftlichen Forschung.

Von allen Teilnehmenden wurden die drei Tage als produktiv und bereichernd, wenn auch herausfordernd empfunden. Insbesondere die breite Interdisziplinarität im Gegenstandsbezug und methodischen Vorgehen hat von den Teilnehmenden viel Kommunikationsarbeit, Offenheit und das Aushalten von Spannungen verlangt. Doch gerade fachabhängige Uneinigkeiten haben zu einem besseren Verständnis der eigenen disziplinären Verortung und deren Grenzen beigetragen und wurden als gewinnbringend und notwendig für einen differenzierten Forschungsanspruch bewertet. Es besteht großes Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit. Der Grundstein für eine deutschsprachige Pornografie-Forschung wurde gelegt und es wird weiter daran gearbeitet, ein Netzwerk aufzubauen. Ein Folgeworkshop, um den interdisziplinären Austausch anhand konkreter Forschungsfragen zu vertiefen und offen gebliebene Diskussionsstränge wieder aufzugreifen, ist für Oktober 2024 bereits in Planung.



Publication History

Article published online:
03 September 2024

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