PSYCH up2date 2024; 18(06): 443-444
DOI: 10.1055/a-2395-9144
Editorial

Verantwortung kann nicht geteilt, aber gemeinsam getragen werden – über die Verantwortung unserer Psych*Profession in Krisenzeiten

Eva-Lotta Brakemeier

Bereits in meinem letzten Editorial im April 2023 habe ich mich mit dem Thema „Verantwortungsübernahme als Pflicht oder als Leidenschaft? Eine up2date Haltung unserer Psych*Profession“ auseinandergesetzt. Leider sind die Krisen unserer Zeit seither nicht weniger geworden – im Gegenteil. Während der Krieg in der Ukraine Europa weiterhin erschüttert, eskalieren die Konflikte im Nahen Osten. Gleichzeitig spitzt sich die Klimakrise immer weiter zu, und die Themen Migration und Flucht dominieren die politische Agenda. Die psychischen Folgen der Corona-Pandemie, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, werden zunehmend durch Studien untermauert. Zudem beobachten wir eine wachsende gesellschaftliche Polarisierung, die die Stabilität unsere Demokratien bedroht. Diese multiplen Krisen können eine ernsthafte Bedrohung für unsere psychische Gesundheit darstellen – und das betrifft uns alle. Besonders gefährdet sind dabei bestimmte vulnerable Gruppen, die den psychischen Auswirkungen dieser Krisen noch stärker ausgesetzt sind. Daher trägt unsere Psych*Profession – und hiermit beziehe ich alle Berufsgruppen ein, die sich mit der Psyche befassen – eine besondere Verantwortung, die psychischen Belastungen dieser Krisenzeiten entgegenzuwirken und präventiv gegenzusteuern [1].

Im Mai 2024 hatte ich zwei prägende Erlebnisse. Während zweier Delegationsreisen nach Tschernihiw und Drohobytsch (mit der Wissenschafts- und Europaministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Bettina Martin, sowie dem Oberbürgermeister von Greifswald, Dr. Stefan Fassbinder) konnte ich erleben, wie die Regionalpartnerschaften zwischen Mecklenburg-Vorpommern und seiner ukrainischen Partnerregion Tschernihiw sowie zwischen der Stadt Greifswald und ihrer Partnerstadt Drohobytsch aktiv gelebt werden. Vor Ort habe ich psychologische Unterstützung geleistet, indem ich Workshops zur Interpersonellen Therapie für medizinisches Personal geleitet und Gruppentherapien für Patient*innen durchgeführt habe [2]. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche, die seit mehr als zwei Jahren unter dem Angriffskrieg Russlands leiden. Die psychischen Auswirkungen auf diese jungen Menschen sind verheerend. Diese Erlebnisse haben mir die Dramatik der Lage vor Ort und das immense Leid der Menschen deutlich vor Augen geführt. Luftalarm, Unterricht in Schutzräumen, verletzte oder getötete Angehörige und Raketenangriffe gehören für sie zum Alltag. Die Stärke, das Engagement und die Widerstandskraft der Menschen haben mich tief beeindruckt.

Diese Begegnungen haben mich zudem noch mehr motiviert, meine Expertise als Psychologin, Psychotherapeutin und Berufspolitikerin dort einzubringen, wo sie dringend gebraucht wird. Persönliches Engagement hilft mir auch, besser mit den emotionalen Belastungen umzugehen, die dieser Krieg und andere Krisen in mir auslösen. Ich bin mir sicher, viele von Ihnen haben ähnliche Erfahrungen gemacht.

In einem aktuellen Artikel („Psyche in der Klimakrise? Update zur ökologischen Psychiatrie und Psychotherapie“, Psychup2date 5/2024) haben wir betont, wie wichtig aktives Engagement ist. Statt in übermäßige Kontrolle oder Überkompensation (Fight) zu verfallen, sollten wir kollektive Selbstwirksamkeitserfahrungen anstreben. Das kann helfen, Gefühle der Ohnmacht zu überwinden und ein stärkeres Sinnempfinden zu entwickeln. Anstelle einer passiven Haltung des Erleidens (Freeze) geht es darum, die Realität der Krisen anzuerkennen und zu akzeptieren, ohne dabei in Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Diese Akzeptanz erlaubt es uns, reflektiert und proaktiv zu reagieren. Vermeidung oder Verleugnung (Flight) hingegen verhindert Selbstfürsorge. Es ist entscheidend, dass wir unsere eigenen Grenzen erkennen, uns ausreichend erholen und die nötigen Ressourcen aufbauen, um langfristig resilient zu bleiben [3] [4].

Es ist ermutigend, dass viele Fachgesellschaften diese Verantwortung durch Engagement aktiv wahrnehmen. Ein Beispiel ist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie (DGPPN), die die Task-Force „Klima und Psyche“ gegründet hat. Diese Arbeitsgruppe hat nicht nur die Evidenz zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die Psyche zusammengetragen, sondern auch Handlungsempfehlungen für eine klimaneutrale Psychiatrie entwickelt. Zudem fördert sie Forschungsaktivitäten an der Schnittstelle von Ökologie, Psychiatrie und Neurowissenschaften und setzt mit dem Kongress 2024 einen klaren Schwerpunkt auf das Thema „Psychische Gesundheit in Krisenzeiten“.

Als neue Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) möchte ich gemeinsam mit dem Vorstand und unseren Mitgliedern auch fokussiert die Verantwortung für unsere Profession in Krisenzeiten wahrnehmen. Erreichen möchten wir das insbesondere durch das Brückenbauen und Netzwerken. Nur durch die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen (wie zu den anderen Psych*Fächern) und den Aufbau von Brücken zur Politik und zu den Medien können wir den Krisen effektiv begegnen und zur Lösung beitragen. Wenn wir unsere Expertise gemeinsam einbringen, können wir viel bewirken.

Wie Walter Jakoby einmal sagte: „Verantwortung kann nicht geteilt, aber gemeinsam getragen werden.“

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiterhin engagiertes Handeln, die Akzeptanz von Ereignissen, die sich vorerst nicht ändern lassen, und sinnstiftende Selbstfürsorge – vielleicht ja bei der Lektüre der vier Artikel in diesem Heft:

  • „Lewy-Körperchen-Demenz – eine unterdiagnostizierte Erkrankung“ von Prof. Dr. Robert Perneczky, MBA und Bettina Endres

  • „Alkoholbezogene Störungen und Alkoholentzug mit möglichen Komplikationen“ von Dr. Annette Binder

  • „Therapieresistente Schizophrenie“ von Prof. Dr. Elias Wagner und Prof. Dr. Alkomiet Hasan

  • „Prävention psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter“ von Prof. Dr. Katajun Lindenberg

Herzlich,
Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier (Universität Greifswald)



Publication History

Article published online:
18 November 2024

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  • Literatur

  • 1 Stapel S, Brakemeier E-L. Psychologische Third-Mission-Projekte im Kontext von COVID-19-Pandemie und Ukraine-Krieg. PiD - Psychotherapie im Dialog 2023; 24: 38-42
  • 2 Brakemeier E-L, Hauck S, Harder F. Interpersonelle Psychotherapie (IPT): Ein evidenzbasiertes und praxisorientiertes Update zur Wirksamkeit, Durchführung und zu Weiterentwicklungen. PSYCH up2date 2023; 17: 337-357
  • 3 Brakemeier E-L, Karl S, Stapel S. et al. Psyche in der Klimakrise?: Update zur ökologischen Psychiatrie und Psychotherapie. PSYCH up2date 2024; 18: 425-440
  • 4 Chmielewski F. Globale Krisen in der Psychotherapie: Therapeutisch konstruktiv in schwierigen Zeiten arbeiten: mit E-Book inside und Arbeitsmaterial (1. Auflage). Weinheim: Beltz; 2023