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DOI: 10.1055/a-2416-4584
Ein verkanntes Leiden
Natalie Grams ist Ärztin, bekannt geworden durch ihre Aufklärung über die fehlende Wissenschaftlichkeit der Homöopathie. Das hier besprochene Buch klärt über Long COVID und ME/CFS auf und argumentiert nachdrücklich, dass diese Krankheitsbilder bislang bei weitem nicht die Anerkennung und Aufmerksamkeit erfahren, die sie benötigen. Die Autorin erklärt dies als betroffene Patientin. Und das macht dieses Buch so besonders und anders als klassische Sachbücher. Dass dieser Zugang zur Thematik nicht nur legitim, sondern in beklemmender Weise aufklärerisch ist, das macht Natalie Grams‘ Publikation unbedingt lesenswert: so das vorweggenommene Fazit des Rezensenten. Dass der Patientin Grams nicht nur in ihrem privaten Umfeld sondern auch bei den kontaktierten Ärztinnen und Ärzten „eine bisher nicht erlebte Ungläubigkeit meinen körperlichen Symptomen gegenüber, ja, ich muss fast sagen, eine ungeheure Ignoranz…begegnet“: es möchte auf den ersten Blick ungerecht und anklagend wirken. Wer sich dann aber darauf einlässt, einer Betroffenen zu folgen, welche Beschwerden sich hinter den Kürzeln Long COVID und ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom) verbergen, der fragt sich bei Fortschreiten der Lektüre immer mehr, wie es sein kann, dass der häufigste Reflex – noch gedämpft – in die Frage gekleidet wird, ob das nicht doch alles psychosomatisch und den F-Diagnosen des ICD zuzuordnen sei. Der Rezensent gehört einer Ärztegeneration an, die tatsächlich lange nicht davon zu überzeugen war, dass ME/CFS eine organische Systemerkrankung ist. ME/CFS kann wie bei Natalie Grams nach Long COVID (oder anderen Infektionskrankheiten) über die zuvor schon stark beeinträchtigende Fatigue hinaus zu einem noch dramatischeren Krankheitsbild führen. Auf der Homepage des Charité Fatigue Zentrums heißt es: „Leitsymptome sind eine schwere Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und körperliche Symptome, u. a. Halsschmerzen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen sowie ein Verlauf über mindestens 6 Monate. Zusätzlich besteht eine ausgeprägte Belastungsintoleranz, d. h. es kommt nach Anstrengung zu einer länger anhaltenden Zunahme der Beschwerden (sogenannte postexertional malaise)“. Natalie Grams schildert, was das konkret bedeutet: wenn überhaupt müssen Aktivitäten des Alltags „löffelweise“ dosiert werden, um nicht immer wieder Rückschläge zu erleiden, die zu Bettlager verdammen („Es ist kein Herumliegen. Ich bin ans Bett gefesselt“). Der Kontakt zum sozialen Umfeld gerät ins Wanken, immer wieder treten z. B. Phasen von extremer Licht- und Geräuschempfindlichkeit auf. An auch nur passagere Fortführung der Berufstätigkeit ist nicht zu denken. Eine ursächliche Behandlung gibt es bisher nicht, das Verschreiben lindernder Medikamente oder von Physiotherapie sind nicht selbstverständlich. Die Autorin beschreibt, wie dieses Buch entstehen konnte: sie hat über lange Zeiträume Passagen diktiert, die mit professioneller Unterstützung in den vorliegenden Text gebracht wurden. In dieser Kooperation konnten auch ein umfassendes Glossar und Quellenverzeichnis entstehen. Berichtet sei auch der Hinweis der Autorin, dass einschlägige Verlage den Druck abgelehnt haben, weil sie das Buch für nicht gut verkäuflich gehalten haben. So wurde der Weg über Books on Demand gewählt. Inzwischen haben renommierte Printmedien das Buch entdeckt und der Autorin Raum für Kurzversionen oder Interviews gegeben. Ich möchte aufrufen, das Buch zu erwerben und dann vielleicht im eigenen Umfeld weiter dafür zu werben. Das ist wohl auch deshalb sinnvoll, weil COVID inzwischen ja merkwürdigerweise oft primär als Geschichte von Fehlplanungen der Politik gesehen wird, während das Risiko, auch heute nach einer Infektion an Long COVID und eben auch an ME/CFS zu erkranken, offenbar kein Thema ist. Die Lektüre des Buchs sei insofern „Laien“ wie Professionellen ans Herz gelegt.
Norbert Schmacke, Bremen
Publication History
Article published online:
07 November 2024
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