Onkologische Welt 2024; 15(07): 441-442
DOI: 10.1055/a-2438-6264
Magazin

Zwanzig Jahre interdisziplinäre zertifizierte Brustzentren: Quo vadis?

Diethelm Wallwiener
Gründer und ehemaliger Herausgeber der „Senologie“, Ärztlicher Senior Professor der Universitäts-Frauenklinik Tübingen
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Die „Senologie“, das offizielle Organ der Deutschen Gesellschaft für Senologie e. V. (DGS) und der Österreichischen Gesellschaft für Senologie feiert ihr 20-jähriges Bestehen. Dies ist ein guter Anlass, einige Gedanken zur zukünftigen Entwicklung und Ausrichtung der zertifizierten Brustzentren in Deutschland, deren 20. Jubiläum wir letztes Jahr begehen konnten, darzulegen.

Basis und Mittelpunkt der Senologie ist und bleibt die Interdisziplinarität, exemplarisch abgebildet durch unsere interdisziplinären Tumorboards. Keine medikamentöse Innovation ist heute als Faktor für die Verlängerung des Gesamtüberlebens wichtiger als die Boards an unseren zertifizierten onkologischen Zentren.

Gegenüber der Politik ist die Einigkeit unter uns Ärzten von zentraler Bedeutung für die Umsetzung des medizinischen Fortschrittes und damit auch für die Weiterentwicklung unserer Brustzentren und der onkologischen Zentren im Allgemeinen. Politiker denken in Legislaturperioden und Wahlkampfzeiten. Das geht oft zulasten von Kontinuität und Umsetzungspotential – eine der Ursachen für die katastrophale Situation im deutschen Gesundheitssystem. Auch die Krankenkassen spielen hier nicht immer eine rühmliche Rolle. Unsererseits ist also ein fester Schulterschluss gefordert, damit wir nicht zum Spielball der Politik und der Krankenkassen werden!

Die Zertifizierung erfordert größten Einsatz und höchste Motivation, ist jedoch nach wie vor freiwillig, bleibt aber ohne Kostenkompensation, und das bei fehlender Digitalisierung im Wirrwarr der Krankenhaus-Informationssysteme. Deshalb muss die qualitätsgesicherte Onkologie im abgestuften Versorgungssystem ein Anwendungsfall für die aktuelle Krankenhausreform sein. Selbstverständlich müssen starre Sektorengrenzen überwunden werden, aber die mühevoll aufgebauten komplexen Strukturen im stationären Bereich, die die gesamte interdisziplinäre Prozesskette zur optimalen onkologischen Versorgung abbilden und höchste Versorgungsqualität gewährleisten, dürfen nicht durch eine politisch forcierte Ambulantisierung zerschlagen werden, bevor nicht gleichwertige ambulante Strukturen als Ersatz geschaffen werden.

Die Onkologie insgesamt befindet sich inmitten eines rasanten Paradigmenwechsels von einer reagierenden hin zu einer „evolutionären Medizin“ (Prof. Detlev Ganten). Unsere senologischen Operationsverfahren entwickeln sich rasch von kurativ zu präventiv weiter, erkennbar am Beispiel der prophylaktischen Glandektomien bzw. Ovarektomien bei hereditärer Risikokonstellation. Dieser Wechsel wird jedoch Zeit brauchen. Daher müssen zusätzliche operative Kapazitäten geschaffen werden, und die Senologie muss hier Motor der Innovationen bleiben!

Auch in der Systemtherapie findet ein Paradigmenwechsel statt: die Weiterentwicklung der medikamentösen und insbesondere der oralen Therapien. Ein neues Kapitel der Onkologie wird aufgeschlagen, sie entwickelt sich von „cure“ zu „care“, von der Heilung hin zur Versorgung und Pflege, zur Behandlung von Krebserkrankungen als chronischen Erkrankungen, bei Erhaltung einer guten Lebensqualität.

Die wissenschaftliche Abbildbarkeit unseres Handelns, die Überführung in Evidenz und Leitlinien muss unser „kategorischer Imperativ“ sein. Auch in dieser Hinsicht war, ist und bleibt die Senologie Vorreiter und Schrittmacher zugleich: Die Brustzentren dienen längst den übrigen zertifizierten onkologischen Zentren als Blaupause.

Für unsere Zukunftssicherung ist die Nachwuchsförderung die wichtigste Maßnahme. Medizinische Innovationen brauchen oft mehrere Generationen bis zur definitiven Umsetzung. Daher brauchen wir Motivation und den Glauben an die nächste Generation. Die Übergabe des wissenschaftlichen Staffelstabes muss zum richtigen Zeitpunkt erfolgen, damit die Fortschrittlichen von heute nicht zu Verhinderern des Fortschrittes und der Innovationen von morgen werden.

Unser Zertifizierungssystem, auf das wir zurecht stolz sein dürfen, ist im Hinblick auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse, Paradigmenwechsel und Innovationen weiterzuentwickeln. Wiederum ist der Schulterschluss der Fachgesellschaften, Berufsverbände, Institutionen und aller beteiligten Kolleginnen und Kollegen von zentraler Bedeutung. So sollten alle Patientinnen, die im Mammografie-Screening eine Brustkrebsdiagnose erhalten, verpflichtend an zertifizierte Zentren überwiesen werden müssen. Jedes Glied der Prozesskette, vom Screening bis zur Palliativmedizin, muss abgebildet sein, einschließlich der Zentren für Familiären Brust- und Eierstockkrebs, molekularen Tumorboards und Zentren für personalisierte Medizin.

Ferner müssen wir die bestmögliche Qualität auch in die Fläche bringen, denn noch haben nicht alle zertifizierten Brustzentren die gleiche Qualität. Dies stellt angesichts der kritischen Situation des deutschen Gesundheitssystems eine große Herausforderung dar. Als Repräsentanten der Hochleistungszentren müssen wir uns auf zentrale Zielkriterien wie die Nachresektionsrate fokussieren. Die Fortschritte müssen wir in Studien mit „Real-world“-Daten wie der PRAEGNANT-Studie nachweisen.

Ein weiterer Garant der Qualitätssicherung ist die Zentralisierung. So konnte der Gemeinsame Bundesausschuss auf der Basis unserer Daten die Mindestmengenregelung auch beim Mammakarzinom beschließen. Demnach dürfen die Krankenkassen Mammakarzinom-Operationen ab 2025 nur noch vergüten, wenn eine Klinik jährlich mehr als 100 Primärfälle behandelt. Als Konsequenz wird die Zahl der Kliniken, die Brustkrebs-Patientinnen operieren, in naher Zukunft signifikant zurückgehen. Allerdings erfordert diese Zentralisierung als Ausgleich einen Ausbau der Kapazitäten an den großen operativen Zentren.

Die Umstrukturierung bedeutet wiederum einen längeren Weg, denn für die Vielzahl der notwendigen Reformen in der deutschen Krankenhauslandschaft stellen der Föderalismus und die Zuständigkeiten auf Länderebene mit den resultierenden politischen Implikationen die größte Barriere dar. In der Bevölkerung liegt die Akzeptanz weiterer Wege jedoch laut einer neueren Forsa-Umfrage bei fast 90 %, sofern im Gegenzug die Qualität stimmt.

Nicht zuletzt gilt es aber, die Unabhängigkeit des Ärztestandes zu bewahren. Diese Forderung steht allerdings im direkten Gegensatz zur politisch angestrebten Gleichmacherei in Richtung einer Staatsmedizin. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Freiheit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit unserer Berufsausübung zum Wohle unserer Patientinnen erhalten bleiben muss. Denn Arzt zu sein bedeutet viel mehr als nur evidenzbasierte oder leitliniengesteuerte Medizin zu praktizieren – es beinhaltet die ärztliche Heilkunst auszuüben, das Heilen können. Um unsere freiheitliche Berufsausübung zu erhalten, müssen wir uns allerdings der Verantwortung stellen, um dem Bild unserer ärztlichen und interprofessionellen Tätigkeit wieder einen gebührenden Stellenwert zu verleihen!

Abschließend ist zu hoffen, dass diese zukünftigen Herausforderungen für unsere Brustzentren und die Senologie im Allgemeinen uns allen nicht nur helfen werden, das Ist zu erhalten, sondern auch weiterhin das Soll zu gestalten.



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Article published online:
08 November 2024

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