Psychiatr Prax 2025; 52(01): 56
DOI: 10.1055/a-2496-3469
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Psychiatrie in Zeiten globaler Umweltkrisen

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Ein wichtiges Buch. Das liest man häufig in Rezensionen und der Büchermarkt ist voll von vermeintlich oder tatsächlich Wichtigem. Dieses graphisch sehr ansprechend gestaltete Buch ist aber tatsächlich wichtig. Weil es endlich einmal das Wissen über die Zusammenhänge von psychischen Störungen, der Klimakrise und weiteren Umweltkatastrophen auf aktuellem wissenschaftlichem Stand zusammenfasst? Nein, deshalb nicht. Interessanterweise kann man dieses Buch auf zweierlei Art lesen. Man kann darin das lesen, was man angesichts des Titels erwartet: Eine Darstellung der großen Problembereiche Klimawandel, Diversitätsverlust und Umweltverschmutzung und ihrer Auswirkungen auf die psychische Gesundheit; die notwendigen Anpassungen bei Hitzewellen, die traumatischen Auswirkungen von Umweltkatastrophen mit entsprechenden psychischen Folgewirkungen, das aus mehreren Gründen besonders erhöhte Risiko von Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen bei Hitzewellen; die Notwendigkeit, den ökologischen Fußabdruck institutioneller psychiatrischer Versorgung zu reduzieren und anderes mehr. Alles von Experten gut zusammengefasst und ausgeleuchtet, sehr politisch korrekt, sehr wissenschaftlich. Wussten wir aber nicht schon das meiste davon, hatten wir nicht wichtige Ergebnisse bereits gelesen, ist die psychiatrische Perspektive auf die Umweltkrisen wirklich so wichtig?

Das ist tatsächlich sekundär. Man kann dieses Buch nämlich auch ganz anders lesen. Es ist die umfassende Kontextualisierung des Sozialen und der natürlichen Umwelt im als Dachkonstrukt in aller Munde befindlichen „bio-psycho-sozialen Modell“. Dieses Modell kann bekanntlich als konstitutiv für die Psychiatrie betrachtet werden; es bleibt aber dennoch häufig etwas floskelhaft und hölzern. Recht gut durchdekliniert in den Lehrbüchern und im Weiterbildungskanon sind das Biologische und das Psychische (neuerdings, auch in diesem Buch, aufgrund einer falschen Übersetzung aus dem Englischen zum „Mentalen“ geworden), auch mit den jeweiligen Interaktionen bis hin zu den philosophischen Implikationen. Das Soziale bleibt dagegen in der Konzeptualisierung dahinter zurück und oft merkwürdig inhaltsleer. Nicht wenige Psychiaterinnen und Psychiater würden es etwa beschreiben als „wichtiger Aspekt, machen Sozialarbeiter und dafür haben wir Gemeindepsychiatrie“. Dass auch die physische Umwelt eine Rolle spielen könnte, ist im bio-psycho-sozialen Modell noch gar nicht vorgesehen, obwohl sich dafür inzwischen beträchtliche Evidenz akkumuliert hat. Damit bleibt die Psychiatrie auch, wie viele andere Teile der Medizin, individuumszentriert, mit Schwerpunkten auf Akutbehandlung und Tertiärprävention und eher schwach in der Primär- und Sekundärprävention. Und genau für diese Schwäche liefert dieses Buch die notwendige Perspektivenerweiterung, die stark in den Bereich Public Health reicht und die Psychiatrie als bio-psycho-soziales Fach wirklich in den Mittelpunkt der Gesellschaft rückt. In den hier vorgestellten Krankheits- (und Gesundheits-) Modellen geht es nicht nur um Umweltkatastrophen, sondern notwendigerweise auch um die Gestaltung öffentlicher Räume, soziale Beziehungen, Erleben der Natur, Mobilität und Armut, also eigentlich alle Aspekte des menschlichen Lebens. Und es bleibt nicht bei einer pessimistischen Problemanalyse, sondern dieses Buch (bzw. eine zeitgemäße Psychiatrie) hat auch auf der Interventionsseite einiges zu bieten. Das reicht von den skizzierten Vorstellungen über die notwendige Weiterentwicklung der Psychopharmakotherapie und der psychiatrischen Versorgung bis hin zum „Social Prescribing“ und städtebaulichen Konzepten. Was für ein überaus spannendes Fach! Wenn man das Buch so liest, wird sehr schnell deutlich: Diese Kontextualisierung des Sozialen und der Umwelt gehört in unsere Lehrbücher und in den Weiterbildungskanon. Und das bio-psycho-soziale Modell bedarf einer mit viel Inhalt gefüllten Erweiterung als bio-psycho-soziales-lebensweltbezogenes Konzept von Krankheit und Gesundheit. Deshalb ist dies tatsächlich ein wichtiges Buch.

Tilman Steinert, Ravensburg

E-Mail: tilman.steinert@zfp-zentrum.de



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Article published online:
13 January 2025

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