Dtsch Med Wochenschr 2008; 133(40): 2022-2026
DOI: 10.1055/s-0028-1085615
Medizingeschichte | Commentary
Kardiologie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Reperfusionstherapie im akuten Infarkt

Historische Perspektiven zum 30. Jahrestag der ersten akuten perkutanen Koronarintervention (PCI)Historical perspectives on reperfusion therapy in acute myocardial infarctionThe 30st anniversary of acute percutaneous coronary interventionK. P. Rentrop
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Publication Date:
25 September 2008 (online)

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Einleitung

Die kausale Rolle der Koronarthrombose im akuten Infarkt war bis zum Ende der 70er Jahre umstritten. Herrick formulierte 1912 aufgrund von Autopsiebefunden die These, dass die lokalisierte Myokardnekrose durch einen thrombotischen Verschluss der zugehörigen Koronararterie verursacht wird [15]. Folgerichtig schlossen Fletscher und Sherry 1959 Patienten mit akutem Myokardinfarkt in der ersten klinischen Studie der systemischen Fibrinolyse mit Streptokinase ein mit dem Ziel, durch Lyse des verschließenden Koronarthrombus das ischämische Myokard zu reperfundieren und die Infarktgröße zu begrenzen [12]. 1960 infundierte Boucek Thrombolysin semiselektiv in den rechten oder linken Koronarsinus [3] . Selektive intrakoronare Fibrinolyse wurde Anfang der 70er Jahre in Tiermodellen exploriert [18] [23] und 1976 von Chazov bei 2 Patienten beschrieben; bei einem erfolgte eine Reperfusion [9]. Dieser Fallbericht in russischer Sprache blieb allerdings bis Anfang der 80er Jahre im Westen weitgehend unbekannt. Das Ergebnis dieser Untersuchung veranlasste Chazov nicht dazu, diese therapeutische Strategie weiter zu verfolgen.

Trotz dieser Ansätze gehörte 1977, als die Food and Drug Administration (FDA) fibrinolytische Therapie zur klinischen Anwendung zuließ, der akute Infarkt nicht zu den akzeptierten Indikationen. In den USA war das Interesse an der fibrinolytischen Therapie des Herzinfarktes erloschen, wofür sich zwei Gründe nennen lassen.

Zum ersten wurde die kausale Rolle der Koronarthrombose seit 1956 in Frage gestellt, als Pathologen intrakoronare Thromben nur bei einer Minderheit von tödlichen Infarkten fanden und aufgrund von histologischen Kriterien schlossen, dass die Thromben jünger waren als die Infarkte [4] [38] . Roberts postulierte, dass die Myokardnekrose bei hochgradiger Koronarsklerose ohne thrombotischen Verschluss durch plötzliche Erhöhung des myokardialen Sauerstoffbedarfs oder Verringerung des Perfusionsdruckes verursacht werden kann [37]. Ist das ischämische Gebiet groß, fallen Herzzeitvolumen, Blutdruck und Myokardperfusion zunehmend ab, und in hochgradig verengten Gefäßen kommt es zur Stase. Stase wiederum führt zur Thrombose. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Koronarthrombose nimmt mit der Dauer der verminderten Koronarperfusion, d. h. der Überlebensdauer, zu [37]. Ein zweites Argument gegen die fibrinolytische Therapie ergab sich aus Reperfusionsexperimenten. Jennings berichtete 1960, dass die Nekrotisierung von Myokard 25 Minuten nach Koronarverschluss beginnt und innerhalb von 60 Minuten ihre volle Ausdehnung erreicht [17]. Schädliche Auswirkungen der Reperfusion (reperfusion injury) wurden beschrieben, die sich in Kammerflimmern, Myokardeinblutungen, Infarktausdehnung und hämodynamischer Verschlechterung äußerten [5] [17] .

In Europa wurden diese Vorstellungen weitgehend angenommen. Zudem ging man davon aus, dass die Lyse eines verschließenden Koronarthrombus 3 – 7 Stunden erfordert, zu lange, um Myokard zu retten [19]. Dennoch wurden Herzinfarkte weiterhin mit Fibrinolyse behandelt unter pathogenetischen Vorstellungen, die zuletzt in der 1979 veröffentlichten Studie der European Cooperative Study Group dargelegt worden waren [13]. Die Autoren dieser Studie erklärten den günstigen Einfluss der Streptokinasetherapie auf die Infarktmortalität mit der durch Fibrinogen-Spaltung bedingten Senkung des peripheren Widerstandes [24] und postulierten eine Verbesserung der myokardialen Mikrozirkulation. In Tierexperimenten waren sekundäre Mikrothromben in den kleinen Arterien und Venen des Infarktes und seiner Randbezirke gefunden worden, von denen man annahm, dass sie durch Beeinträchtigung des Kollateralflusses eine Infarktausdehnung verursachten [40]. Da die Mikrothromben sich als schnell lysierbar erwiesen, glaubte man, den Infarkt durch eine 12 stündige intravenöse Streptokinaseinfusion begrenzen zu können [40]. Reperfusion durch Lyse eines verschließenden Koronarthrombus wurde von der European Cooperative Study Group nicht in Erwägung gezogen [13].

Berg in Seattle führte während der 70er Jahre eine chirurgische Revaskularisation innerhalb von 8 Stunden nach Infarktbeginn mit einer Krankenhaussterblichkeit von 4,6 % durch [1] . Im Massachusetts General Hospital betrug die Krankenhaussterblichkeit von Patienten im kardiogenen Schock 55 %, wenn innerhalb von 24 Stunden nach Infarktbeginn unter intraortaler Gegenpulsation (IABP) eine chirurgische Revaskularisation durchgeführt wurde, während sie bei konservativer Behandlung über 90 % lag [16] . Dennoch wurde diese Reperfusionsmodalität nicht allgemein akzeptiert. So schrieb Braunwald in seinem Lehrbuch der Kardiologie 1980 unter Zitierung tierexperimenteller Arbeiten, die eine Infarktvergrößerung durch Reperfusion belegten: „…aufgrund des gegenwärtigen Wissensstandes lässt sich die notfallmäßige Revaskularisationstherapie für den akuten Herzinfarkt nicht rechtfertigen.” (… „presently available information does not justify emergency revascularization as treatment for acute myocardial infarction.”) [5]. Als vielversprechend dagegen erschienen Braunwald pharmakologische Interventionen, die den myokardialen Stoffwechsel modifizieren und den Sauerstoffbedarf senken. Auf diese pharmakologischen Interventionen konzentrierte sich die Infarktforschung in den USA und Europa während der 70er Jahre. Die Ergebnisse klinischer Untersuchungen waren jedoch enttäuschend [39].