PPH 2009; 15(2): 59
DOI: 10.1055/s-0028-1109388
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fürsorge und Autonomie

U. Villinger
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Publication Date:
28 April 2009 (online)

In diesem Heft finden Sie auf Seite 60 einen Artikel, der sich mit der Betrachtung pflegerischen Handelns bei suizidalen Patienten unter zwei gegensätzlichen ethischen Grundvoraussetzungen befasst: dem des fürsorglichen Handelns notfalls für den Patienten, aber vielleicht im Gegensatz zu seinen Wünschen auf der einen Seite und den Prinzipien des Respekts der Autonomie, des Nicht-Schadens, des Nützens und der Gerechtigkeit auf der anderen.

Vor ein paar Tagen ereignete sich in dem Heim für schwerst chronisch psychisch erkrankte Menschen, in dem ich arbeite, während des Mittagessens ein schwerer Zwischenfall, als ein Bewohner das Essen so gierig in sich hineinschaufelte, dass er sich daran verschluckte und beinahe daran erstickt wäre, ein Ereignis, das sicher viele von Ihnen kennen. Seither befassen wir uns in Team- und Übergabebesprechungen immer wieder mit der Frage, wie wir die Mahlzeiten so gestalten können, dass jeder in Ruhe zu seinem Essen kommt, sich von der Situation, der Nähe anderer Menschen nicht überfordert fühlt, nicht die Angst bekommt, zu kurz zu kommen. Bei einem Gespräch mit dem Leiter einer im nächsten Ort liegenden Tagesstätte mit pro Tag bis zu 30 Besuchern über das Problem der Mahlzeiten berichtete dieser, dass die Mitarbeiter sich auch dort mit demselben Problem befassen: Wie können wir die Wünsche der Besucher/Bewohner ernst nehmen und respektieren, die Selbstständigkeit fördern – das ist einer unserer Aufträge – und gleichzeitig eine Atmosphäre schaffen, die Wohlbefinden, Gelassenheit, Genuss und damit Selbstsicherheit erzeugt.

Man könnte einwenden, dass ein Heim/eine Tagesstätte für psychisch erkrankte Menschen sowieso keine guten Orte zum Leben seien. Schon gar nicht eine Tagesstätte mit bis zu 30 Besuchern täglich oder ein Heim mit viel zu großen Wohngruppen. Das ist richtig, jedoch bei allen Bemühungen, andere – bessere – Lebensformen und -orte zu finden, bleiben immer wieder Bewohner bei uns und Besucher in der Tagesstätte, bei denen uns das nicht gelingt, bei denen wir – zumindest momentan – vor Ort keine bessere Alternative finden. Und bei denen wir froh sind, dass wir sie überhaupt erreicht haben, dass sie nicht schon früher durch die Maschen des psychosozialen Netzwerks gefallen sind. Und wir haben die Menschen in unserer Obhut und können nicht einfach sagen, sie sollen bitte anderswo hingehen. „Anderswo” gibt es aber nicht. Also bleibt zunächst nichts anderes übrig, als zu fragen, welche Grundsätze und ethischen Leitlinien uns in unserem Alltag bei der Betreuung von schwerst chronisch psychisch erkrankten Menschen eine Richtung geben, Respektierung der Autonomie der Besucher/Bewohner oder Fürsorge.

Zurück zur Gestaltung der Mahlzeiten bei schwer chronisch erkrankten Klienten: Zur Verhütung von Notfällen wie dem oben genannten könnte für viele Bewohner unter dem rein fürsorglichen Aspekt passierte Kost festgelegt und bestellt werden, unter dem Aspekt von Wohlbefinden und Autonomie jedoch nicht. Wer mag schon passierte Broccoli! Die Aspekte des Nicht-Schadens, des Nützens und der Gerechtigkeit sollten bedeuten, dass wir Möglichkeiten schaffen, dass nicht 20 oder 30 Personen, die Nähe nur schwer aushalten, in einem Raum zu Mittag essen müssen, sondern in kleinen Gruppen von drei oder fünf Personen mit Begleitung ihr Essen in Ruhe genießen können. Aber das ist utopisch, wie soll das gehen?

Am 23. Mai diesen Jahres wird allen Orts der 60. Geburtstag des Grundgesetzes begangen. Der erste Artikel heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Dies gilt aus meiner Sicht ebenso für die Würde schwer chronisch psychisch erkrankter Menschen wie für diejenigen mit somatisch bedingten Leiden. Beide haben ein Anrecht darauf, gemäß ihrer Bedürfnisse und ihrer persönlichen Möglichkeiten, ihre Autonomie achtend, Hilfe und Fürsorge zu erfahren, auch bei den Mahlzeiten in einem Heim oder einer Tagesstätte. Wir müssen weiter darum kämpfen!