Fortschr Neurol Psychiatr 2009; 77: S3-S6
DOI: 10.1055/s-0028-1109592
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fächerdifferenzierung unter sozialistischen Bedingungen – Die Etablierung der Neurologie an der Universität Rostock

Disciplinary Differentiation Under Socialist Conditions – the Establishment of Neurology at the University of Rostock in East GermanyE. Kumbier1, 2 , K. Haack2 , U. K. Zettl3
  • 1Universität Rostock, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Direktorin: Prof. Dr. med. S. C. Herpertz)
  • 2Universität Rostock, AG Geschichte der Nervenheilkunde am Zentrum für Nervenheilkunde
  • 3Universität Rostock, Klinik und Poliklinik für Neurologie (Direktor: Prof. Dr. med. R. Benecke)
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. August 2009 (online)

Zusammenfassung

Nach 1945 verlief die Entwicklung der Neurologie hin zu einem eigenständigen Fachgebiet in beiden deutschen Staaten unterschiedlich. Seit etwa den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts kann man von einer selbstständigen universitären Etablierung und Institutionalisierung der Neurologie in der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Um diese Zeit konnte sich das Fachgebiet auch in der DDR etablieren. Nur in Ausnahmefällen erreichte es hier jedoch akademische Eigenständigkeit durch die Schaffung neurologischer Lehrstühle oder eigenständiger neurologischer Kliniken. Eine Ausnahme bildete die Universität Rostock. Schon frühzeitig, 1958, wurde hier ein eigenständiger Lehrstuhl für Neurologie eingerichtet. Neben wissenschaftsinternen Faktoren spielten dafür insbesondere gesellschaftspolitische Einflüsse eine maßgebliche Rolle. Damit ist die Rostocker Universitäts-Nervenklinik ein Beispiel dafür, wie wissenschaftsexterne Faktoren Einfluss auf Wissenschaft und Disziplingenese haben können.

Abstract

The move towards disciplinary independence in Germany turned out to be more troublesome than in France or Great Britain and real institutional independence was not established at German universities until the 1970 s of the 20th century, and this in the Federal Republic of Germany only. In East Germany (German Democratic Republic – GDR), a division into Chairs of Psychiatry and Neurology took place at individual universities and medical colleges only. Nevertheless, in exceptional circumstances, neurology did gain academic autonomy in the GDR. One such exception was the University of Rostock, where as early as 1958, the Chair of Psychiatry had been divided into three independent Chairs of Psychiatry, Neurology and Child Psychiatry. Besides internal scientific factors, socio-political constraints played a particular role here and had an influence on the disciplinary differentiation.

Literatur

  • 1 Pantel J. Streitfall Nervenheilkunde – eine Studie zur disziplinaren Genese der klinischen Neurologie in Deutschland.  Fortschr Neurol Psychiatr. 1993;  61 144-155
  • 2 Zülch K J. Die geschichtliche Entwicklung der deutschen Neurologie. Berlin; Springer 1987
  • 3 Schmiedebach H P. Die Herausbildung der Neurologie in Greifswald – Anmerkungen zur Fächerdifferenzierung in der Medizin. Fischer W, Schmiedebach HP Die Greifswalder Universitäts-Nervenklinik unter dem Direktorat von Hanns Schwarz 1946 – 1965 Greifswald; Ernst-Moritz-Arndt-Universität 1999: 98-114
  • 4 Karenberg A. Die Gründung der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte” und die schwierigen Anfänge der klinischen Neurologie in Deutschland. Keil G, Holdorff B Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde Würzburg; Königshausen & Neumann 2008: 319-345
  • 5 Karenberg A. Klinische Neurologie in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg: Die Begründer des Fachs und der Fachgesellschaft. Kömpf D 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Neurologie Berlin; Deutsche Gesellschaft für Neurologie 2008: 20-29
  • 6 Kreft G. Der erste Lehrstuhlinhaber für Neurologie in Deutschland.  Nervenarzt. 1999;  70 1122-1123
  • 7 Brandt T. Die Neurologie – über 100 Jahre und noch nicht erwachsen?.  Nervenarzt. 1999;  70 489-490
  • 8 Eisenberg U. Zwischen Emanzipation und Integration: Neurologie im geteilten Deutschland (1945 – 1990). Kömpf D 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Neurologie Berlin; Deutsche Gesellschaft für Neurologie 2008: 48-54
  • 9 Wagner A. Neurologie in der DDR: Aspekte zur Struktur und Profilbildung. Kömpf D 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Neurologie Berlin; Deutsche Gesellschaft für Neurologie 2008: 55-56
  • 10 Kumbier E, Haack K, Herpertz S C. Opportunities and Restrictions for Psychiatrists in East Germany between Politics and Reality.  Hist Psychiatry (zur Publikation eingereicht).
  • 11 Kumbier E. Wirken und Leben von Franz Günther Ritter von Stockert. Beiträge zum Frankfurter Symposium 2006. Universität Rostock 2007
  • 12 Kumbier E, Haack K, Herpertz S C. Franz Günther von Stockert im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft – Ein Beitrag zur Geschichte der Nervenheilkunde in der DDR.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2009;  77 285-288
  • 13 Feudell P. Stand und Entwicklung der Neurologie.  Psychiatr Neurol Med Psychol. 1981;  33 601-605
  • 14 Sayk J. Von den Masurischen Seen über Königsberg nach Jena und Rostock. Rostock; Ingo Koch Verlag 2003
  • 15 Ernst A S. „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus”: Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945 – 1961. Münster; Waxmann 1997
  • 16 Kumbier E, Häßler F. 50 Jahre universitäre Kinderneuropsychiatrie in Rostock.  Z Kinder Jugendpsychiat Psychother (im Druck).
  • 17 Benecke R. Klinik für Neurologie und Poliklinik. Nervenheilkunde VZ Hg, 100 Jahre Psychiatrische und Nervenklinik Rostock Rostock; 1996: 50-56
  • 18 Sayk J. Ergebnisse neuer liquor-cytologischer Untersuchungen mit dem Sedimentierkammer-Verfahren.  Ärztl Wochensch. 1954;  9 1042-1046
  • 19 Sayk J. Cytologie der Cerebrospinalflüssigkeit. Jena; Fischer 1960
  • 20 Meyer-Rienecker H J. Zur Entwicklung der Neurologischen Abteilung in Rostock – Ein Beitrag zur Spezialisierung des Fachgebietes Neurologie.  Psychiatr Neurol Med Psychol. 1983;  35 513-523

1 Zur Diskussion um den ersten Lehrstuhl für Neurologie in Deutschland vgl. [6] [7]. Nach Karenberg erhielt Max Nonne (1861 – 1959) nach Gründung der Hamburger Universität 1919 zunächst eine außerordentliche Professur und 1925 ein persönliches Ordinariat. Nonne war damit der erste und zu diesem Zeitpunkt einzige Hochschullehrer in Deutschland, der sowohl einen unabhängigen Lehrstuhl für Neurologie innehatte als auch gleichzeitig eine eigenständige Neurologische Universitätsklinik leitete [4].

2 So entstanden u. a. 1951 in Freiburg (Richard Jung) und 1955 in Düsseldorf (Eberhard Bay) die ersten neuen neurologischen Lehrstühle, denen in den 60er-Jahren weitere folgten. Selbst noch 1962 gab es in der BRD nur 2 eigenständige Ordinariate und zwei Extraordinariate für Neurologie [3].

3 Den Status einer Universitätsnervenklinik erhielt die Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim (später Psychiatrische und Nervenklinik) erst am 1.4.1946. Natürlich gab es schon zuvor verschiedene, teils namhafte Fachvertreter wie Max Rosenfeld (1871 – 1956) oder den Wernicke-Schüler Karl Kleist (1879 – 1960), die sich vorwiegend für neurologische Themen interessierten.

4 Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass die 1956 gegründete Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR für das Prinzip der Einheit des Fachgebiets stand. Von Stockert gehörte dem ersten Vorstand dieser Fachgesellschaft an, da er gleichzeitig der Vorsitzende der entsprechenden Regionalgesellschaft war. Erst 1980 kam es zur Differenzierung innerhalb der DDR-Gesellschaft in sogenannte Sektionen (Neurologie, Psychiatrie, Kinderneuropsychiatrie und medizinische Psychologie), womit auch die Eigenständigkeit der Neurologie in der DDR begründet wurde [13].

5 Elsaesser, der zuvor in Greifswald und Halle an klinisch-neuropathologische Problemen gearbeitet hatte, leitete nach seiner Rückkehr nach Greifswald ab 1960 die neu gegründete Abteilung für Neurohistopathologie und übernahm 1965 die Leitung der gesamten Universitäts-Nervenklinik [3]. Die näheren Umstände seines Weggangs aus Rostock sind nicht bekannt. In Sayks Autobiografie findet sich der Hinweis, dass seine Entlassung „wegen einer Erkrankung” erfolgte [14].

6 Sayk hatte gemeinsam mit Rennert an der traditionsreichen Hans-Berger-Nervenklinik der Jenenser Universität gearbeitet, die unter Leitung von Rudolf Lemke (1906 – 1957) stand.

7 In seinen autobiografischen Erinnerungen berichtet Sayk ebenfalls über den Beginn in Rostock, er spricht hier allerdings von einer Neurologischen Abteilung mit 128 Betten, die auf 5 Stationen in 2 Häusern verteilt waren [14].

Dr. med. Ekkehardt Kumbier

Universität Rostock, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

eMail: ekkehardt.kumbier@medizin.uni-rostock.de