Klin Monbl Augenheilkd 2009; 226(10): 793
DOI: 10.1055/s-0028-1109798
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Strabismus im Brennpunkt

Focus on StrabismusJ. Esser1
  • 1Universitätsaugenklinik Essen
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 October 2009 (online)

Beim Landeswettbewerb „Jugend forscht” 2006 in Mecklenburg-Vorpommern wurden Schüler für eine Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Lese-Rechtschreib-Schwäche und „Winkelfehlsichtigkeit” ausgezeichnet. Diese Studie war von einem Augenoptiker geleitet worden. In dieser Arbeit wurde vorgeschlagen, eine Untersuchung auf „Winkelfehlsichtigkeit” mit in die Einschulungsuntersuchungen aufzunehmen. Dies veranlasste das Sozialministerium Mecklenburg-Vorpommern, die Orthoptik der Universitätsaugenklinik Greifswald zu bitten, die Sinnhaftigkeit einer solchen Untersuchung zu prüfen. Die hieraus entstandene Studie von Petra Riebeling (S. 794) hat untersucht, ob es zwischen Legasthenikern und einer Kontrollgruppe Unterschiede bezüglich Augenstellung und Binokularsehen gibt. Die von den Verfechtern der Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase (MKH) verwendete Pola-Test-Methode wurde bewusst mit einbezogen. Die Studie kommt zu dem eindeutigen Schluss, dass Legastheniker keine Unterschiede bei Fernvisus, Refraktion, Akkommodation, Augenstellung, Konvergenzbreite bzw. Stereosehen im Vergleich zu nicht betroffenen Kindern aufweisen.

Schwerpunkt dieses Strabismus-Heftes sind die Augenmuskelparesen. Bei der Okulomotoriusparese ist die Indikationsfindung zur Augenmuskeloperation für die jeweils individuellen, komplexen Inkomitanzmuster die Aufgabe eines erfahrenen Operateurs. Julia Fricke (Köln) gibt einen umfassenden Überblick über die differenzialtherapeutischen augenmuskelchirurgischen Möglichkeiten, wobei sie auch die Frage beantwortet, inwieweit Kopfzwangshaltung, Fehlregenationen, Seitenverteilung, Interaktion von Ptosis und Augenfehlstellung und nicht zuletzt der Erwartungshorizont des Patienten in die Therapie mit einbezogen werden müssen (S. 801). Schwerpunkt der dargestellten Kasuistiken sind die modernen Verfahren der Muskeltransposition.

Im Gegensatz zu Okulomotoriusparese lassen sich bei Einmuskel-Paresen (N. trochlearis, N. abduzens) die Ergebnisse größerer statistischer Untersuchungen hinsichtlich Operationsindikation, -dosierung und Prognose auf den Einzelfall übertragen. Dies wird an großen Fallserien aus Gießen (Trochlearisparese) und Essen (Abduzensparese) deutlich. Michael Gräf hat die aktuellen Gießener Ergebnisse ebenso wie diejenigen der obliquus-chirurgischen Pioniere K.-P. Boergen, H. Kaufmann, G. Kolling und H. Steffen sehr übersichtlich zusammengefasst (S. 806): Operationen bei Trochlearisparesen sind gut zu dosieren, wenn dies nicht nur in Abhängigkeit von den Schielwinkeln in Primärposition, sondern auch in Anhängigkeit von den individuell unterschiedlichen Motilitätsgegebenheiten geschieht. Basierend auf den Messungen von Höhenabweichung und Exzyklotropie in Adduktion (einschließlich Auf- und Abblick) können zielgenaue Operationsempfehlungen hinsichtlich der Wahl der zu operierenden Muskeln und hinsichtlich der Operationsdosierung gegeben werden.

Dosierungs-Empfehlungen bei einseitiger Abduzensparese finden sich im Gegensatz zur Trochlearisparese bisher eher spärlich. Die Essener Arbeitsgruppe (S. 812) hat deshalb versucht, die Indikationen für die beiden international anerkannten Operationsprinzipien (Resektion des betroffenen M. rectus lateralis [ggf. in Kombination mit einer Rücklagerung des ipsilateralen Antagonisten bzw. einer Schwächung des kontralateralen Synergisten] und Muskeltransposition benachbarter Augenmuskeln) von einander abzugrenzen und darüber hinaus auch die Dosis-Wirkungs-Relationen auszuwerten und hieraus konkrete Empfehlungen für die Dosierung abzuleiten.

Der Sonderfall der seltenen beidseitigen Abduzensparese bedarf eher Einzelfallbetrachtungen, aus denen sich aber durchaus allgemeingültige Empfehlungen ableiten lassen, wie die Studie von Julia Fricke (Köln) zeigt (S. 818). Die Kölner Arbeitsgruppe hat eine Modifikation der von Hummelsheim eingeführten Technik entwickelt, bei der statt der skleralen Fixation der präparierten Zügel aus den temporalen Anteilen der vertikalen Rektusmuskeln (am Ansatz des M. rectus Lateralis) diese Muskelzügel mit resorbierbaren Nähten vereint und hinter dem Ansatz des M. rectus lateralis fixiert werden. Die Technik wird bei der bilateralen Parese einzeitig angewendet und führt zu guten Ergebnissen.

Die chronisch-progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO) kann isoliert auftreten oder auch im Rahmen weiterer klassischer mitochondrialer Syndrome wie MELAS, MNGIE oder SANDO. Die molekularen Grundlagen der CPEO sind meist singuläre oder multiple Deletionen der mtDNA, seltener Punktmutationen. All diese Mutationen der mtDNA können nicht nur eine CPEO verursachen, sondern auch andere mitochondriale Syndrome. Dies macht es notwendig, sowohl den klinischen Phänotyp als auch den zugrunde liegenden Genotyp genau zu klassifizieren. Viktoria Bau (Dresden) gelingt es in ihrer Übersichtsarbeit (S. 822), eine klare Ordnung in diese verwirrende Variantenvielfalt zu bringen und dem beratenden Augenarzt Hilfestellung für die adäquate Aufklärung des Patienten über die Prognose und Vererbbarkeit seiner Erkrankung zu leisten.

Prof. Dr. Joachim Esser

Universitätsaugenklinik

Hufelandstr. 55

45122 Essen

Phone: ++ 49/2 01/7 23 29 07

Fax: ++ 49/2 01/7 23 56 41

Email: joachim.esser@uni-essen.de

    >